Wenn Ali vom Sturz des Assad-Regimes in Syrien erzählt, strahlen seine dunkelbraunen Augen hinter den Brillengläsern. „Jetzt kann ich endlich bald meine Freunde und Verwandten besuchen“, sagt der 22-Jährige mit einem breiten Lächeln in akzentfreiem Deutsch.
Ali sitzt mit seinen Eltern Lujain (43) und Ghnim (54) und seinem Bruder Nabil (17) im Esszimmer ihrer Osnabrücker Wohnung. Vater Ghnim floh 2015 aus einem kleinen Ort nahe Damaskus über Umwege nach Deutschland. Seine Frau und die Kinder folgten 2018 mit einem Visum zur Familienzusammenführung. In diesen Tagen verfolgen sie wie rund eine Million syrischer Staatsangehöriger in Deutschland die dramatische Wende in ihrer Heimat aus der Ferne.
Der Flur der Altbauwohnung liegt im Schein einer Lichterkette, die Lujain um das Treppengeländer gewunden hat. Den Tisch im Esszimmer hat die studierte Grundschullehrerin adventlich geschmückt, selbstgebackene Plätzchen in Form von Tannenbäumen und Sternen auf einem Teller angerichtet. Zwei Kerzen brennen. Die Familie ist muslimisch. „Aber wir feiern alles“, sagt Ali grinsend.
Er hat in Osnabrück sein Abitur gemacht und ist gerade im zweiten Semester seines dualen Maschinenbau-Studiums. Seine Mutter hat in der neuen Heimat eine Ausbildung zur Erzieherin absolviert und arbeitet seit anderthalb Jahren in einer Kita. Vater Ghnim ist Elektro-Ingenieur und hat jetzt einen Job als Elektriker. Nabil besucht die elfte Klasse eines Gymnasiums.
Am 24. Dezember werden sie vor allem Nabil hochleben lassen. „Er hat an Weihnachten Geburtstag und wird 18“, erklärt die Mutter. Nabil lächelt schüchtern: „Mein Onkel reist dann mit der Familie aus Frankreich an.“ Mit den übrigen Onkeln und Tanten, Cousinen und Großeltern in Syrien werden sie in einer Videokonferenz zusammenkommen.
Derzeit sehen sie sich per Videoanruf aber ohnehin jeden Tag. „Wir fragen immer, wie es ihnen geht, was es Neues gibt. Die Lage ist so unsicher gerade“, sagt Lujain und senkt den Blick. Das macht ihnen bei aller Freude über das Ende des Diktators Baschar al-Assad auch Angst. „Es kann in alle Richtungen kippen“, meint ihr Mann. Deshalb möchten er und die anderen nur ihre Vornamen veröffentlicht wissen.
Niemand könne wissen, ob sich der Chef der Übergangsregierung, Mohammed al-Baschir, tatsächlich vom Islamismus losgesagt habe oder das nur vortäusche, warnt Ghnim. Man müsse zudem abwarten, ob al-Baschir die anstehenden Aufgaben bewältigen und eine demokratische Wahl organisieren könne. Die Infrastruktur sei zerstört, eine neue Verwaltung müsse aufgebaut werden. „Es hat Plünderungen gegeben“, erzählt der Vater. Sogar eine Rückkehr Assads halte er nicht gänzlich für ausgeschlossen.
Ali widerspricht. Bashar al-Assad werde nicht zurückkommen, sagt er und schüttelt energisch den Kopf. „Und schlimmer als unter ihm und seinem Vater Hafiz kann es nicht werden.“ Was 43 Jahre Diktatur in dem Land angerichtet hätten, werde zum Teil erst jetzt deutlich. „Wir haben die Videos von den unterirdischen Gefängnissen und den dort jahrzehntelang misshandelten Häftlingen gesehen - einfach schrecklich, unvorstellbar.“
Die Menschen seien geschockt, aber es herrsche auch Aufbruchstimmung. Ali berichtet von jungen Menschen, die aus freien Stücken Straßen säubern, Leitungen reparieren oder Häuser anstreichen. „Auch einige meiner Freunde machen mit.“
Dennoch sorgt sich der junge Mann, dass Islamisten in seiner Heimat Unruhe stiften und das Volk drangsalieren könnten. „Manchmal habe ich Angst, dass Syrien zu einem zweiten Iran wird“, sagt er. Deshalb wollen er und seine Familie mit einem Besuch auf jeden Fall noch warten, bis die Lage sich hoffentlich stabilisiert. „Unser Haus wartet schon“, sagt Lujain und ergänzt mit einem sehnsuchtsvollen Blick: „Es ist verschlossen und alles ist noch so, wie wir es verlassen haben.“
Ganz zurückkehren will niemand aus der Familie. Sie müssen auch nicht befürchten, zurückgeschickt werden. Seit einem Monat haben sie ihre deutschen Pässe. „Aber ein kurdischer Arbeitskollege hat jetzt Angst, dass er seinen Einbürgerungsantrag zu spät eingereicht hat.“ Sie spüren, dass die Stimmung in der deutschen Bevölkerung ihnen gegenüber nicht mehr so positiv ist wie bei ihrer Ankunft.
„Wenn irgendwann die AfD an die Macht kommt und die Rassisten zu stark werden, suche ich mir ein anderes Land“, sagt Ali. Überhaupt wüssten sie jetzt, dass sie überall neu anfangen könnten, ergänzt sein Vater. „Es war schwer für uns am Anfang.“ Es habe oft Tränen gegeben. „Manchmal wollte ich zurück“, sagt seine Frau. Aber sie hätten es letztlich als positive Herausforderung begriffen. „Ich habe den Kindern gesagt: Geht raus und integriert euch.“