Pflegegeld für elterliche Aufsicht über Essenseinnahme beim Kind
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Die elterliche Kontrolle über das Essen eines an Diabetes Typ 1 erkrankten Kindes kann einen Anspruch auf Pflegegeld begründen. Voraussetzung ist, dass das Kind einer nicht mehr altersentsprechenden Beaufsichtigung beim Essen bedarf, urteilte das Bundessozialgericht in Kassel.

Kassel (epd). Wenn Eltern ständig kontrollieren müssen, ob und was das an Diabetes erkrankte Kinder isst und trinkt, kann das „Pflege“ sein und bei der Bestimmung des Pflegegrades berücksichtigt werden. Das gilt zumindest dann, wenn Eltern mit der Kontrolle der Essensmenge Blutzuckerentgleisungen beim Kind verhindern wollen, urteilte am 12. Dezember das Bundessozialgericht (BSG) in mehreren Verfahren. Das Vorliegen eines zusätzlichen Pflegebedarfs besteht den Kasseler Richtern zufolge auch dann, wenn Kinder sich gegen das Legen einer Kanüle für ihre Insulinpumpe aus Angst wehren und Eltern sie ständig zur Kooperation überreden müssen, befand das Gericht.

Nach den gesetzlichen Bestimmungen gibt es ab dem Pflegegrad 2 Pflegegeld. Zur Bestimmung des Pflegegrades prüft der Medizinische Dienst die krankheitsbedingten Beeinträchtigungen in sechs sogenannten Modulen und bewertet diese mit insgesamt bis zu 100 Punkten. Dazu gehören etwa die Bereiche „Selbstversorgung“ (Modul 4), „Verhaltensweisen und psychische Problemlagen“ (Modul 3) oder auch „Bewältigung und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen“ (Modul 5). Weil Kleinkinder einen höheren Pflegebedarf haben, werden sie bis zum 18. Lebensmonat um einen Pflegegrad höher eingestuft als ältere Kinder.

Genaue Kontrolle der Essensmenge täglich nötig

Der Leitfall betraf einen wegen Diabetes Typ 1 insulinpflichtigen Jungen, der im Streitzeitraum zwischen sieben und 14 Jahre alt war und eine Insulinpumpe nutzte. Dabei musste er vor dem Essen seine Nahrungsmenge bestimmen, damit die Insulinpumpe über eine Kanüle die richtige Menge Insulin abgibt. Um Blutzuckerentgleisungen zu verhindern, war es notwendig, dass der Junge genau die festgelegte Nahrungsmenge zu sich nimmt, egal ob er noch Hunger hat oder nicht.

Die Eltern hatten für den klagenden Jungen bei der Pflegekasse der AOK Nordwest die Anerkennung des Pflegegrades 2 und damit Pflegegeld beantragt. Sie begründeten das unter anderem damit, dass sie ihr Kind bei der Nahrungsaufnahme ständig beaufsichtigen und zum Essen anhalten müssten. Nur so könne gewährleistet werden, dass die zuvor abgegebene Insulinmenge zur Nahrungsmenge passt und der Blutzuckerspiegel stimmt. Außerdem müsse der Junge motiviert werden, das etwa alle zehn Tage erforderliche schmerzhafte Legen der Kanüle für die Insulinpumpe zu erdulden. Auch das müsse bei der Bestimmung des Pflegegrades berücksichtigt werden, forderten die Eltern.

Medizinischer Dienst gewährt nur Pflegegrad 1

Die Pflegekasse holte ein Gutachten des Medizinischen Dienstes ein und stufte den Jungen daraufhin nur in Pflegegrad 1 - ohne Anspruch auf Pflegegeld. Allein das kindliche Abwehrverhalten gegen das Legen der Kanüle sei noch nicht krankheitsbedingt. Das könne allenfalls dann bei der Pflegegradbestimmung berücksichtigt werden, wenn das Kind eine psychische Angststörung entwickelt habe. Das sei hier jedoch nicht der Fall. Die Eltern könnten das Kind trotz anfänglichen Abwehrverhaltens gut motivieren, etwa indem man es als Belohnung länger fernsehen lasse. Das sei Kindererziehung und keine Pflege. Eine psychische Störung liege nicht vor, hieß es.

Auch die Aufsicht über die erforderliche korrekte Nahrungsaufnahme stelle keinen zusätzlichen Pflegebedarf dar, entschied die Pflegekasse. Bei dem Kind sei die Nahrungsaufnahme bereits im Modul 5 als „Einhalten einer Diät“ berücksichtigt worden. Eine zusätzliche Berücksichtigung im Modul „Selbstversorgung“, zu dem auch „Essen und Trinken“ gehöre, scheide daher aus.

Gericht sieht ständigen Pflegebedarf

Das BSG gab jedoch nun den Eltern recht. Zum einen stelle die ständige Aufsicht über die richtige Essensmenge, abhängig von der jeweiligen Insulingabe, einen zusätzlichen Pflegebedarf dar. Zwar sei das Einhalten einer Diät bereits im Modul 5 (Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Belastungen) berücksichtigt. Aber: Die elterliche Aufsicht über die richtige Nahrungsaufnahme gehöre zum Modul 4 „Selbstversorgung“. „Entscheidend ist (...), dass das Kind im Zusammenhang mit der essensangepassten Dosierung der Insulingaben beim Essen erhöhten Anforderungen unterliegt und ob es insoweit - wie hier - einer besonderen, nicht mehr altersentsprechenden Beaufsichtigung beim Essen bedarf“, urteilten die obersten Sozialrichter. Das sei hier der Fall.

Zum anderen müsse auch die Angst des Kindes vor dem Legen der Kanüle und das daraus resultierende Abwehrverhalten bei der Pflegegradbestimmung berücksichtigt werden. Dabei sei es nicht erforderlich, dass die kindliche Angst Krankheitswert habe. Die Praxis der Pflegekassen, dass eine solche Angst nur bei Vorliegen einer psychischen Störung beim Pflegegrad berücksichtigt werden könne, sei mit dem Gesetz nicht vereinbar, urteilte das BSG. Der Kläger habe damit Anspruch auf Pflegegeld.

Az.: B 3 P 9/23 R und B 3 P 2/24 (Bundessozialgericht, Aufsicht Diabetes)

Frank Leth