
Dass das Verhältnis zwischen Kirchen und der CDU und CSU tieferen Schaden genommen hat, glaubt die Bevollmächtigte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) nicht - und hofft, dass die Parteien nach der Wahl Kompromissfähigkeit beweisen.
epd: In wenigen Tagen wird ein neuer Bundestag gewählt. Wie laufen diese Tage für Sie: Gibt es viele Abschiedstreffen?
Anne Gidion: Es ist eine besondere Situation. Am letzten Sitzungstag des Bundestags am 11. Februar haben wir eine ökumenische Abschieds- und Dankandacht gehalten für Abgeordnete, die ausscheiden. Es kamen Vertreter und Vertreterinnen aller Fraktionen, auch Abgeordnete, die sich noch einmal zur Wahl stellen. Die Atmosphäre dort hat mich berührt. Man spürt bei vielen die derzeit große Anstrengung. Ähnlich war es auch bei einem politischen Abendgebet, das wir gemeinsam mit dem Berliner Dom veranstaltet haben, bei dem Hermann Gröhe (CDU) gesprochen hat. Da gab es nachdenkliche Momente, wo ich die Kraft des Verbindenden von gottesdienstlichen Ritualen sehe, die auf eine andere Ebene bringen, was eine Debatte vielleicht gerade mühselig macht.
epd: Die Debatte am 11. Februar im Bundestag war hitzig, deutlich geprägt vom Wahlkampf. Und bei der Andacht davor sitzen die Politiker ganz anders beieinander?
Gidion: Ja, die Stimmung bei einer Andacht ist eine völlig andere. Ich würde sagen, die Menschen können dort eine ganz andere Version ihrer selbst sein, vielleicht auch in dem Gefühl: Wir müssen gerade mal einen kleinen Moment lang nicht streiten.
epd: Der Bruch der Ampel-Koalition hat zur vorgezogenen Neuwahl geführt. Gibt es etwas, das Sie richtig gut fanden an dieser Koalition?
Gidion: Der Anfang hat mir gut gefallen. Man hatte wirklich das Gefühl, die Beteiligten wollen ihre Unterschiedlichkeiten einbringen und gemeinsam etwas schaffen für dieses Land. Ich fand auch etliche Gesetzesvorhaben wichtig, etwa den Spurwechsel, also dass eine bestimmte Gruppe von Schutzsuchenden in Deutschland bleiben darf, wenn sie Arbeit finden, oder die Unterstützung von Freiwilligendiensten.
epd: Und was hat sie enttäuscht oder geärgert?
Gidion: Die Art des Auseinandergehens. Ich bedaure, dass dieses Signal zurückgeblieben ist: „Uns trennt mehr, als uns verbindet.“ Wir haben im Bundestag Parteien, die unsere demokratischen Grundpfeiler in Frage stellen und unterlaufen wollen. Umso mehr brauchen wir die Kompromissfähigkeit der Parteien der Mitte und die Entschlossenheit, zu zeigen, dass der demokratische Weg funktioniert.
epd: Jetzt arbeiten sich die Parteien teilweise sehr stark aneinander im Wahlkampf ab. Wie bewerten Sie den Stil des Wahlkampfs: Ist er so fair wie versprochen?
Gidion: Dieser Wahlkampf hat viele Facetten. Es gab Kanzlerkandidaten-Duelle, bei dem Menschen überwiegend sachlich miteinander geredet haben. Ich sehe originelle Wahlwerbung auf Instagram und gute Wahlaufrufe. Es gibt aber leider auch viel anderes, zum Beispiel Angriffe auf Wahlkämpfende auf der Straße. Das finde ich untolerierbar und brandgefährlich. So etwas führt dazu, dass noch weniger Leute den Mut haben, sich in dieser Weise politisch zu engagieren.
epd: Fehlen Ihnen Themen im Wahlkampf?
Gidon: Es ist auf jeden Fall problematisch, wie die ganze Klimathematik weggerutscht ist. Sie spielt im Wahlkampf praktisch keine Rolle, obwohl die Probleme nicht ansatzweise gelöst sind. Ein weiteres Thema ist die Pflege. Als alternde Gesellschaft steuern wir auf eine nicht mehr lösbare Pflegesituation zu. Und auch da hat wirklich niemand einen Masterplan. Stattdessen ist das Themenfeld Migration bestimmend.
epd: Sie und Ihr katholisches Gegenüber in Berlin, Karl Jüsten, haben vor der Abstimmung im Bundestag über Initiativen der Union für eine drastische Verschärfung des Asylrechts einen Brief an die Abgeordneten geschickt, der für viel Kritik in der Union gesorgt hat. Sind Sie zu weit gegangen?
Gidion: Wir haben eine Stellungnahme abgegeben, die es schon gab - zu einem Gesetzentwurf der Unionsfraktion, der längst eingebracht war und gar nicht mehr in die Abstimmung kommen sollte. Dann hat ihn plötzlich die AfD einbringen wollen, woraufhin die Union ihn dann doch selbst auf die Tagesordnung hat setzen lassen. In diese aufgeladene Situation haben wir die kirchlichen Positionen eingetragen. Wir wollten deutlich machen, wo die Initiativen rechtliche Probleme aufwerfen, aber auch, dass wir darin aus christlicher Überzeugung fehlgeleitete Vorstellungen entdecken. Auch vor einem gemeinsamen parlamentarischen Handeln mit der AfD zu warnen, war uns wichtig.
epd: Hat Sie die Wucht der Kritik überrascht?
Gidion: Ja, ich fand es erstaunlich, wie viele Reaktionen unsere Botschaft ausgelöst hat. Das zeigt, dass wir einen kritischen Punkt getroffen haben. Viele Menschen machen sich Sorgen um die Frage, wie man Migration und Integration besser gestalten kann. Ich kann nachvollziehen, dass man sich da rasche Lösungen wünscht. Aber zugleich muss man eben sicherstellen, dass man im geltenden Rechtsrahmen bleibt, europäisch beieinander und dass man den gesellschaftlichen Diskurs nicht vergiftet. Und nicht Migration an sich ist unser Problem - wir profitieren zum Beispiel extrem von zur Zuwanderung von Fachkräften -, sondern dass eine gute Integration Kraft und Ressourcen braucht, die oft fehlen.
epd: Fürchten Sie, dass das Schreiben Auswirkungen auf die Zusammenarbeit mit einem möglichen Kanzler Friedrich Merz haben könnte?
Gidion: In meinen zweieinhalb Jahren im Amt hatte ich viele gute Begegnungen mit Friedrich Merz, mit Carsten Linnemann und anderen Vertretern der Partei. In der Woche nach besagter Abstimmung im Bundestag haben wir zum CDU-Parteitag gemeinsam Gottesdienst gefeiert, uns den Friedensgruß gegeben und weitere Gespräche verabredet. Innerhalb der christlichen Familie kann auch mal gestritten werden.
epd: Teilen Sie die Sorge, dass die Abstimmung mit der AfD das Vertrauensverhältnis zwischen den demokratischen Parteien erschüttert hat und Koalitionsgespräche schwerer werden?
Gidion: Leichter gemacht hat es das bestimmt nicht. Aber gleichzeitig traue ich allen Beteiligten zu, dass sie nach der Wahl sagen: Um der Sache und der Verantwortung willen fangen wir noch einmal von vorn an.
epd: Laut Vorwahlumfragen wird die AfD-Fraktion im nächsten Bundestag deutlich stärker. Die EKD unterhält keine offiziellen Kontakte zu der in Teilen rechtsextremen Partei. Werden Sie diese Position noch einmal neu diskutieren müssen?
Gidion: Grundsätzlich sind alle Abgeordneten zu unseren geistlichen Angeboten eingeladen. Aber Gespräche sind kein Selbstzweck; wir werden wachsam und kritisch bleiben und menschenfeindliche Äußerungen nicht hinnehmen. Es geht uns um ernsthafte Auseinandersetzung. Und die wird es wieder geben.