Mit der Bratsche aus dem Armenviertel
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Schülerin spielt Geige im Hof der katholischen St.-John-Schule im Slum Korogocho in Nairobi
"Ghetto Classics" bringt klassische Musik in die Slums von Kenia
Nairobi (epd).

Aus den offenen Fenstern schallen Trompetenmelodien, im Hof sitzt eine Geigenschülerin mit ihrem Lehrer - und unter einem Vordach haben zwei Posaunistinnen Platz genommen: Jedes Wochenende wird aus der katholischen St.-John-Schule im Slum Korogocho in Nairobi eine Musikschule. Im hintersten Gebäude, in dem Klassenzimmer, das der größten Müllhalde der kenianischen Hauptstadt am nächsten ist, packt Dennis Ngige seine Bratsche aus. „Bratsche spielen bringt mich in eine andere Welt“, sagt er: „Musik ist friedlich.“

Der 23-Jährige begrüßt seine drei Schüler, die heute zum Unterricht gekommen sind. Seit sieben Jahren ist Ngige jeden Samstag und Sonntag mit dem Programm „Ghetto Classics“ hier. Als Jugendlicher kam er, um Musik zu lernen. Heute unterrichtet er die Jungen und Mädchen aus Korogocho. „Im Slum aufzuwachsen bedeutet, Drogen, Bandenkriminalität ausgesetzt zu sein. Das hier war mein Entkommen“, sagt der Musiker. Sein Vater hat lange auf der Müllhalde gearbeitet, das Müllsortieren sichert Tausenden Familien in Nairobi das Überleben.

Geld mit Privatstunden verdient

Etwa die Hälfte der fünf Millionen Einwohnerinnen und Einwohner Nairobis lebt in Slums, Korogocho ist einer davon. 200.000 Menschen sind hier beheimatet, auf eineinhalb Quadratkilometern. In den dicht besiedelten Stadtteilen gibt es keine offizielle Wasser- oder Stromversorgung. Vieles ist improvisiert. Staatliche Sozialprogramme gibt es kaum.

Die Strukturen, die Menschen arm halten, sind schwer zu ändern. Doch „Ghetto Classics“ bringt junge Menschen aus Korogocho an Orte und in Kreise, die ihnen traditionell verwehrt wurden.

So war es auch bei Ngige. 2017 hatte er mit Blockflöte angefangen, eigentlich wollte er Geige spielen, wie sein Bruder. Dann bekam er eine Bratsche in die Hand und verliebte sich in ihren warmen Klang. Seitdem hat er im Nationalen Jugendorchester gespielt und im „Nairobi Orchestra“, dem ältesten und größten Orchester in Kenia. Mit dem Unterricht für „Ghetto Classics“ verdient er nun ein wenig Geld, ebenso wie mit Privatstunden bei Familien in wohlhabenderen Vierteln. Außerdem hat er regelmäßig Auftritte mit seinen Kollegen vom Streichquartett, die auch alle aus Korogocho kommen.

Wachsende Musikindustrie

„Ghetto Classics“ sei Teil und Katalysator der wachsenden Musikindustrie in Kenia, sagt Eric Ochieng, der das Musikprogramm in Korogocho leitet. Mittlerweile hat „Ghetto Classics“ auch Ableger im Slum Mukuru kwa Reuben und in der kenianischen Küstenstadt Mombasa. Ein Orchesterprogramm für öffentliche Schulen gibt es ebenfalls. Mehr als 1.000 Kinder erreichen sie damit aktuell.

Die Instrumente werden von Unterstützerinnen und Unterstützern aus aller Welt gestiftet und in den Räumlichkeiten des Programms aufbewahrt. Nur wer schon lange dabei ist, darf auch mal eins mit nach Hause nehmen. Ngiges Bratsche ist eine Dauerleihgabe vom deutschen Cellisten Thomas Tüschen, der mit seinem Ensemble Medici das Projekt schon seit vielen Jahren fördert.

Jeden Tag übt Ngige, um sich an Universitäten im Ausland für ein Musikstudium zu bewerben. Manch ein „Ghetto Classics“-Schüler hat es geschafft und ein Stipendium bekommen. Lameck Otieno etwa studiert jetzt in den USA Bratsche und Architektur, die Perkussionistin Charity Faith studiert in Polen, der Pianist Teddy Otieno in Großbritannien.

Traum von der großen Bühne

Getragen wird „Ghetto Classics“ von der kenianischen Stiftung „Art of Music Foundation“. Deren Gründerin Elisabeth Njoroge hat das Programm gemeinsam mit Levi Wataka ins Leben gerufen, dem Dirigenten des „Nairobi Orchestra“. Für ihn zeigt „Ghetto Classics“, dass man durch kollektive Anstrengungen nachhaltige Strukturen schaffen kann. „Die Kraft der Musik besteht darin, dass Menschen sie gemeinsam spielen oder einander zuhören müssen“, sagt Wataka, der viele Jahre das Nationale Jugendorchester geleitet hat.

Dennis Ngige sagt, die Musik habe ihn gelehrt, kritisch zu denken und zu hinterfragen, warum die Gesellschaft ungerecht ist. Das Musizieren hat ihn für Auftritte schon nach Tansania gebracht, ebenso wie nach Uganda und an viele Orte in Kenia. Doch heute spielt er mit seinem 15-jährigen Schüler Justus Nzomo „Hänschen klein“. Das Zusammenspiel mit anderen mache ihm Spaß, sagte Nzomo - und er ist froh über den Zugang zu Instrumenten, die sonst für ihn unerreichbar sind.

Mit anderen Schülern übt Ngige schon Stücke von Johann Sebastian Bach. Gemeinsam träumen sie von einer Musikkarriere, die sie aus dem Klassenzimmer neben der Müllhalde auf große Bühnen bringt.

epd video

Von Birte Mensing (epd)