Mohamed Abdullahi schlängelt sich geübt zwischen Bastmatten und Stapeln aus Decken und anderen Habseligkeiten hindurch. Der 65-Jährige lebt seit zwei Jahren mit hunderten anderen Vertriebenen in einer verwaisten Fabrikhalle in Debre Birhan, einer Industriestadt gut 100 Kilometer von der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba entfernt. Um die Fabrikhalle sind etliche provisorische Zeltstädte gewachsen. Nach Angaben von Hilfsorganisationen leben hier 22.000 Menschen. Sie alle sind Amhara und vor ethnischer Gewalt in ihrer Heimat Oromia geflohen.
Vor ihrer Flucht hätten Bewaffnete ihr Dorf überfallen und willkürlich Bewohner erschossen, erzählt Mohamed. Eins seiner Kinder - eine Tochter - und seine Schwester seien getötet worden. Der Familienvater vermutet, dass die Bewaffneten zur OLA-Miliz gehörten, der „Oromo Liberation Army“, die für einen unabhängigen Staat für das Volk der Oromo kämpfen.
Das ostafrikanische Äthiopien ist ein Vielvölkerstaat, die über 120 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner gehören mehr als 80 Ethnien an. Seit einigen Jahren nehmen die Spannungen zwischen den Volksgruppen in mehreren Landesteilen zu. Das hat auch mit der Politik von Ministerpräsident Abiy Ahmed zu tun, der die Regierungsgeschäfte seit 2018 führt. Abiy will die Macht stärker zentralisieren. Und er schürt die Rivalitäten zwischen den Gruppen, spielt sie gegeneinander aus, um seine Position zu festigen.
Schwere Kriegsverbrechen auf beiden Seiten
Tatsächlich scheint er aber das Gegenteil zu erreichen: In den Regionen Amhara und Oromia sieht sich Abiys Regierung mit Aufständen konfrontiert. Sie sind nicht zuletzt eine Folge des verheerenden Krieges in der nördlichen Region Tigray, in dem von 2020 bis 2022 mindestens 600.000 Menschen getötet wurden.
In Tigray kämpften die äthiopischen Streitkräfte an der Seite von Amhara-Milizen und eritreischen Soldaten gegen die Regionalregierung von Tigray und deren Armee. Beide Seiten verübten schwere Kriegsverbrechen, Abiy setzte Hunger als Waffe ein. Die dortigen Konflikte griffen auf das benachbarte Amhara über und sind dort bis heute ungelöst. Unter anderem geht es um Gebietsstreitigkeiten und um die Rolle der regionalen Armee.
Im Kampf gegen die unterschiedlichen Milizen geht die äthiopische Armee laut internationalen Menschenrechtsorganisationen skrupellos vor. Amnesty International beschuldigt sie „willkürlicher Massenverhaftungen“. Und Human Rights Watch wirft ihr in einem Bericht von Anfang Juli vor, medizinisches Personal und die medizinische Infrastruktur gezielt anzugreifen. Bei den dokumentierten Vorfällen handelt es sich um Kriegsverbrechen.
Auch für die Helfenden wird es gefährlicher
Aufgrund der vielen Konflikte und wegen der Folgen des Klimawandels sind nach UN-Angaben landesweit 4,4 Millionen Menschen auf der Flucht. 21,4 Millionen Menschen seien auf Unterstützung angewiesen - bei einer Bevölkerung von gut 130 Millionen Menschen. Fast 16 Millionen davon brauchen dringend Lebensmittel, um überleben zu können.
Doch auch für die Helfenden wird es immer gefährlicher. „Hilfskonvois werden regelmäßig angegriffen und Hilfsgüter geplündert“, beklagt Paul Handley, Leiter des UN-Büros für Humanitäre Angelegenheiten (Ocha) in Addis Abeba. Zur politischen Gewalt komme ein drastischer Anstieg der Kriminalität. Zu Beginn des Jahres habe die größte Gefahr für humanitäre Helfer darin bestanden, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. „Inzwischen stellen wir fest, dass kriminelle Banden gezielt humanitäre Helfer ins Visier nehmen und zum Beispiel entführen“, sagt Handley. Allein in den ersten Monaten des laufenden Jahres seien zehn UN-Mitarbeitende entführt und neun humanitäre Helfer getötet worden, davon sieben allein in der Region Amhara.
In immer mehr Regionen ist laut Handley die staatliche Ordnung praktisch zusammengebrochen: Bewohner und Helfende werden Opfer krimineller Banden, die Menschen verschleppen, um Lösegeld zu erpressen. Fahrten mit dem Auto gelten vielerorts längst als zu gefährlich. Das größte Problem bei der Versorgung der Bedürftigen seien aber nicht diese Gefahren, sondern der Mangel an Geld, sagt Handley. Um in Äthiopien wenigstens diejenigen unterstützen zu können, die am meisten in Not sind, bräuchten die UN für das laufende Jahr geschätzte 3,2 Milliarden US-Dollar. Bekommen haben sie davon nach eigenen Angaben bisher nur 20 Prozent.