
Fast wie in einem Science-Fiction-Film schweben die Kabinen über den Verkehrsstaus und Abgaswolken der Nachbarstädte El Alto und La Paz in Bolivien. Die Tourismusstudentin Arieli Mamani gehört zu den täglich 200.000 Fahrgästen. Rund 600 Höhenmeter überwindet sie von El Alto auf dem Weg zur Universität im Stadtzentrum von La Paz.
Dank der Seilbahn kann sie ihre Reisezeit präzise planen - ein Luxus, den es zuvor nicht gab. „Ich weiß genau, dass ich von zu Hause bis zur Uni 40 Minuten brauche“, erzählt Mamani. Die Seilbahn habe ihre Lebensqualität enorm verbessert und locke zudem Touristen an, was sie besonders freue.
Die Seilbahn ist eine Erfolgsgeschichte der mittlerweile angeschlagenen Partei „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS). Unter der Regierung des früheren Präsidenten Evo Morales wurde 2014 die erste Linie in Bolivien in Betrieb genommen. Elf Jahre später verfügt die Metropolregion El Alto/La Paz mit fast zwei Millionen Einwohnern über das größte urbane Seilbahnnetzwerk der Welt. 32 Kilometer ist es lang.
Kostengünstiger Transport
Im Büro des öffentlichen Seilbahnunternehmens Mi Teléferico sitzt der sichtlich stolze Betriebschef Alejandro Gonzales. Die Seilbahn habe als öffentliches Verkehrsmittel in La Paz eine doppelte Aufgabe, sagt er: Menschen möglichst kostengünstig zu transportieren und den Lebensstandard zu erhöhen. „Das ist entscheidend in einer Stadt, die zu gewissen Tageszeiten im Chaos versinkt - sei es durch den Verkehr oder durch die politischen Demonstrationen, die hier oft stattfinden“, sagt Gonzales.
Seilbahnen wurden im vergangenen Jahrhundert vor allem im Bergtourismus verwendet. Als städtisches Transportmittel werden sie noch nicht lange eingesetzt. Im Jahr 2004 wurde in der kolumbianischen Stadt Medellín die erste urbane Seilbahn in Betrieb genommen. Sechs Jahre später folgte Venezuelas Hauptstadt Caracas. Danach breitete sich die Idee rasant aus. Mittlerweile fahren in elf Ländern Lateinamerikas urbane Seilbahnen, Tendenz steigend. La Paz ist derweil die einzige Stadt, in der aus einzelnen Verbindungen ein Netz aus Seilbahnen gebaut wurde, das fehlende S- und U-Bahnen ersetzt.
Arme Viertel in Hanglage
Der Betrieb - die Seilbahn läuft 16 Stunden am Tag, das ganze Jahr über - stellt die Ingenieure vor Herausforderungen. „Wir mussten mechanische Systeme für dauerhafte Belastung anpassen“, sagt Gonzales. Für die ersten Linien sei das Standardmodell des österreichisch-schweizerischen Konsortiums Doppelmayr/Garaventa modifiziert worden.
Der Seilbahn-Boom in Lateinamerika hat tiefere Ursachen. Weil Städte unkontrolliert wuchsen, siedeln ärmere Bevölkerungsgruppen in schwer zugänglichen Randlagen, oft auf steilen Hängen. Öffentliche Verkehrsmittel werden meist erst im Nachhinein eingerichtet. U-Bahn- oder Straßenbahnlinien können in den Siedlungen nur schwer gebaut werden. Hier sind Seilbahnen die ideale Lösung: Denn sie brauchen weniger Platz, sind unabhängig von Straßen und können auch viele Höhenmeter problemlos überwinden.
Führendes Seilbahn-Unternehmen sieht neuen Markt
Der Seilbahnbau-Marktführer Doppelmayr sieht darin einen neuen Markt und spricht in seinem Geschäftsbericht für 2023/24 von „Zukunftsprojekten“ und einem „Erfolgslauf“ in Lateinamerika, unter anderem in Chile, Kolumbien und Mexiko. Wirtschaftlich macht Lateinamerika allerdings nur zwei Prozent des Umsatzes des österreichischen Konzerns aus. Die größeren Geschäfte macht das Unternehmen weiter im Wintergeschäft.
Vom Boom möchte derweil auch das bolivianische Unternehmen Mi Teléferico profitieren. Betriebschef Gonzales erklärt, dass sie sich derzeit an zwei Verfahren beteiligen, um den Betrieb und die Instandhaltung von Seilbahnen in Brasilien und Kolumbien zu übernehmen. Normalerweise seien es ausländische Unternehmen, die mit ihrem Know-how nach Bolivien kämen und Dienstleistungen anböten, meint Gonzales, nun sei man in der Lage, das Blatt zu wenden.
Gonzales träumt davon, die Gesamtlänge des Netzes in den nächsten Jahren zu verdoppeln. Aktuell fehlen dafür jedoch die finanziellen Mittel - denn der Neubau ist teuer und Bolivien steckt mitten in einer Wirtschaftskrise. Dennoch plant die Regierung derzeit den Bau von zwei neuen Linien. Finanziert werden sollen diese durch internationale Kredite.