Es ist einer der schönsten Nationalparks Brasiliens: Das Schutzgebiet Gandarela beherbergt einen enormen Reichtum an Tier- und Pflanzenarten. Wanderwege führen zu malerischen Wasserfällen, das Wasserreservoir für die nahegelegene Metropole Belo Horizonte im südöstlichen Bundesstaat Minas Gerais liegt hier. Doch die Idylle ist bedroht: Der brasilianische Bergbaukonzern Vale will hier das riesige Eisenerz-Projekt Apolo durchsetzen.
Vom Rande einer Landstraße aus fällt der Blick auf ein liebliches Tal. Von weitem strahlt aus dem satten Tropengrün das weiß getünchte Rokokokirchlein von Socorro. Doch seit dem 8. Februar 2019 ist hier, ganz nah am Nationalpark, nichts mehr wie vorher. „Stunden vor dem Morgengrauen wurden wir von Sirenen geweckt“, erzählt Amaraí Paulo de Moraes. „'Achtung, Achtung, Notfall! Es droht ein Dammbruch. Verlassen Sie sofort Ihre Häuser!' So schallte es aus den Lautsprecheranlagen“.
Geisterdorf
Unter den fast 500 Dorfbewohnern brach Panik aus, sie rafften ein paar Habseligkeiten zusammen und eilten auf die höher gelegene Landstraße. Aus gutem Grund: 14 Tage zuvor war in der Region ein Damm einer Vale-Eisenerzmine gebrochen, die Schlammlawine mit den giftigen Rückständen aus dem Auffangbecken riss 272 Menschen in den Tod. Die Katastrophe von Brumadinho war die zweite ihrer Art innerhalb weniger Jahre. 2015 waren unweit der nah gelegenen Stadt Mariana 19 Menschen ums Leben gekommen, der Doce-Fluss wurde bis zur Mündung in den Atlantik verseucht.
Socorro ist heute ein Geisterdorf. Die Menschen durften nie wieder zurückkehren, die meisten sind in der nächsten Kleinstadt untergekommen. Als sich Familienvater Moraes einmal in sein Haus zurückschlich, wurde er gestellt und vom Konzern verklagt. Er gehört zu jenen 15 Grundbesitzern, die ihr Land noch nicht an Vale verkauft haben.
„Strategie bereitet Ausbeutung weiterer Landstriche vor“
„Staudammterrorismus“ nennt das Daniel Neri, der seine Doktorarbeit über dieses Phänomen geschrieben hat, denn Socorro war kein Einzelfall. „Mit dieser Strategie bereitet Vale die Ausbeutung weiterer Landstriche vor“, sagt der Physiker und Umweltaktivist. Der Beschluss zur Räumung sei zusammen mit den Behörden bereits zwölf Stunden zuvor gefällt worden, hat er herausgefunden. Eine echte Gefahr für die Vertriebenen habe nie bestanden. Doch die Sperrung des Gebiets soll erst 2029 aufgehoben werden.
Eine weitere Strategie, mit der der skandalumwitterte Konzern Fakten schafft, ist der Umweg über „Mini-Minen“. Von kleinen Firmen, die unmittelbar an den Grenzen des Nationalparks Eisenerz fördern, kauft er die Produktion auf. Umweltnormen werden systematisch verletzt, manchmal so offensichtlich, dass selbst die Vale-freundliche Bergbaubehörde einschreitet: Im Juli musste die Lopes-Mine unweit von Socorro ihren Betrieb einstellen.
„Krieg mit einem Heer von Anwälten“
„Derzeit führt Vale mit seinem Heer von Anwälten einen regelrechten Krieg gegen uns, den Gandarela-Park und die Umweltbehörden“, erzählt Waldschützerin Maria Teresa Corujo, die im Einzugsbereich des Apolo-Projekts wohnt. Dabei habe der Konzern den Rückhalt der Landesregierung und des Bergbauministeriums in der Hauptstadt Brasília. Schon vor der Schaffung des Nationalparks 2014 hatte Vale durchgesetzt, dass ein besonders erzhaltiges Filetstück ausgespart wurde.
Vale ist einer der ganz großen Global Player im Rohstoffgeschäft. Auch nach Deutschland, das rund ein Fünftel seines Eisenerz- und Roheisenimports aus Brasilien bezieht, bestehen viele Verbindungen. So wurde der Katastrophendamm von Brumadinho vier Monate vor dem Unfall 2019 vom TÜV-Süd als sicher eingestuft - vor dem Landgericht München fordern 1.402 Klägerinnen und Kläger Schadensersatz. Unterstützt werden sie vom Hilfswerk Misereor.
Sammelklage in England
Derweil sollen die Opfer des Unglücks von Mariana insgesamt 21 Milliarden Euro erhalten - darauf einigten sich am 25. Oktober die brasilianische Regierung, Vale und der britische Rohstoffriese BHP. Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hofft, dies sei den Konzernen eine „Lehre“. In England wird zudem 2025 über eine Sammelklage von 620.000 Betroffenen entschieden, die 43 Milliarden Euro von BHP fordern.
Geändert hat sich vor allem die Marketingstrategie der Multis: Nun ist viel von „nachhaltigem Bergbau“ die Rede. „Wir brauchen keine neuen Minen“, findet der Physiker Neri, Recycling sei eine Alternative. Und Waldschützerin Corujo fragt beschwörend: „Wasser oder Eisenerz - was ist wichtiger?“ Kleinbäuerliche Landwirtschaft und naturnahen Tourismus, das wünscht sie sich als Zukunftsperspektive für das Gandarela-Gebirge.