
Eine zerbombte Straße in der nordirakischen Stadt Mossul im Jahr 2017: Zwischen ausgebrannten Autos und Gebäudetrümmern begrüßt sich eine bunte Schar von Jungen und beginnt zu kicken. Doch wo ist der Ball? Tatsächlich haben die Jungen einen Trick gefunden, das Fußball-Verbot unter der Herrschaft des Islamischen Staates zu umgehen. „Haram-Fußball“ ist ein Ballspiel ohne Ball. Die Jungen haben es so perfektioniert, dass sie sich zusammen so bewegen wie im echten Fußballspiel. Das Video ist Teil von Francis Alÿs Serie „Children’s Games“, die in einer Ausstellung des belgischen Künstlers im Kölner Museum Ludwig zu sehen ist.
Unter dem Titel „Francis Alÿs - Kids Take Over“ präsentiert die Schau bis zum 3. August 30 Videoarbeiten aus „Children‘s Games“ sowie Zeichnungen und kleinformatige Gemälde. Seine Videos stellen Kinder vor, die in unterschiedlichsten Ländern und Klimazonen teilweise bekannten, aber auch sehr speziell an den Ort angepassten Spielen nachgehen. Die Ausstellung zeigt eine Auswahl aus den insgesamt 50 bislang entstandenen Filmen der Serie, darunter auch einige bislang noch nicht gezeigte. Unter anderem realisiert der 1959 geborene belgische Künstler einen neuen Film mit Kölner Kindern, der im Juni in der Ausstellung im Museum Ludwig uraufgeführt werden soll.
„Die Spiele zeigen, wie sich die Kinder an ihre Umgebung anpassen und wie sie versuchen, auf diese Weise zu verstehen, was um sie herum vorgeht“, erklärt Alÿs. „Manchmal machen sie das, was ihnen die Gesellschaft auferlegt hat, auch durch ihr Spiel lächerlich.“ So wie die irakischen Jungen, die einfach begannen, Luft-Fußball zu spielen, als das Regime des Islamischen Staats Ballspiele verbot.
Alÿs Filme zeigen auf eindrückliche Weise, wie Kinder unter widrigsten Umständen ihre Lebensfreude bewahren. Nicht weit von der Frontlinie in der ukrainischen Stadt Charkiw gehen zum Beispiel drei Jungen in Tarnkleidung und mit Holzgewehren bewaffnet auf Jagd nach Spionen. An einer Kreuzung winken sie zum Spaß Autos heraus und prüfen Ausweise. Viele Autofahrer lassen sich auf das Spiel ein. Wer keinen Ausweis dabei hat, dem geben die Jungen die Möglichkeit, durch ein Passwort die Weiterfahrt zu erwirken. Es lautet „Palyanitsya“ - das ukrainische Wort für Brot, das Russen in der Regel nicht korrekt aussprechen.
Alÿs zeigt den Einfallsreichtum von Kindern, die auch lebensfeindlichen Umgebungen Positives abtrotzen. So erfanden Kinder auf der Abraumhalde einer Kobaltmine in Kongo ein Spiel mit Nervenkitzel. Sie legen sich in alte Lastwagenreifen und lassen sich den Hang des grauen Geröllberges hinunterrollen.
In einem gepflasterten kubanischen Hinterhof nutzt eine Gruppe von Jungen eine lehmige Stelle, in der das Erdreich durchbricht, für ein Wurfspiel mit einer Gabel. Und auf einer betonierten Fläche zwischen einer Wüste aus trostlosen Wohn-Hochhäusern in Hongkong haben es drei Mädchen zu wahrer Meisterschaft im schnellen Seilchenhüpfen gebracht.
Einen Kontrast dazu bildet das Spiel belgischer Kinder, die ein Schneckenrennen veranstalten. Die Schneckenhäuser haben sie in verschiedenen Farben bunt bemalt. Das gebannte und geduldige Warten auf die langsame Annäherung der Schnecken an die Ziellinie steht im Kontrast zum rasanten Tempo der westlichen Lebenswelt, die die Kinder umgibt.
Alÿs betrachtet seine Arbeit auch als eine Möglichkeit, Kulturgut zu bewahren. Denn er beobachte, dass in westlichen Städten Spiele, die seit Jahrhunderten von Kindern gespielt würden, innerhalb von zwei Generationen verschwunden seien, sagt der Künstler. Vor allem seit der Corona-Pandemie sei das Spiel im Freien auf dem Rückzug. „In Paris hatte ich große Schwierigkeiten, überhaupt noch spielende Kinder zu finden.“
Für die Kölner Ausstellung haben das Museum Ludwig und der Künstler Kinder bewusst einbezogen. Dazu übergab Alÿs einen Teil der Ausstellungsräume an 50 Schülerinnen und Schüler einer Grund- und einer Hauptschule, die dort gemeinsam eine Spielzone und ein Kindermuseum gestalteten. Dazu suchten sie sich Werke aus der Museumssammlung aus, darunter Gemälde von Gabriele Münter, Pablo Picasso, August Macke oder Emil Nolde.
Alÿs hatte bereits zahlreiche internationale Ausstellungen, darunter im Museum of Modern Art in New York, in der Tate in London und 2022 auf der Biennale in Venedig. 2023 erhielt er den Wolfgang-Hahn-Preis der Gesellschaft für Moderne Kunst am Museum Ludwig. Der Fotograf, Maler, Video- und Aktionskünstler lebt seit 1986 in Mexiko-Stadt. Seine Arbeiten beschäftigen sich unter anderem mit Themen wie den Folgen der Globalisierung, Migration oder politischen Konflikten.