
Anselm Kiefer muss aufs Fahrrad oder in den Gabelstapler steigen, wenn er sich auf dem Gelände und in den weitläufigen Hallen seines Ateliers bei Paris einen Überblick verschaffen will. Sein Werk ist im wahrsten Sinne des Wortes monumental. Bekannt ist der Maler und Bildhauer für seine wandfüllenden, von Grau und Erdfarben dominierten Gemälde, die vielfach Themen aus der deutschen Geschichte und Mythologie aufgreifen. Auf seinem früheren Ateliergelände im südfranzösischen Barjac schuf er die 40 Hektar große Kunstlandschaft „La Ribaute“ mit zahlreichen Türmen, Gebäuden und Skulpturen.
Kiefer, der am 8. März 80 Jahre alt wird und laut dem Ranking „Kunstkompass“ zu den zehn weltweit gefragtesten Künstlern zählt, wurde in Deutschland lange Zeit misstrauisch beäugt, einige Werke riefen Empörung hervor. Kiefers Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit wurde vielfach als Nähe zur faschistischen Ideologie kritisiert, der Künstler fühlte sich missverstanden. „Martialisches Deutschtum“ und „Geschichtsklitterung“ lauteten die Vorwürfe.
Mittlerweile ist Kiefer, der inzwischen zusätzlich die österreichische Staatsbürgerschaft hat, auch in seiner Heimat anerkannt. Er erhielt 2008 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2023 wurde er mit dem Deutschen Nationalpreis ausgezeichnet. Kiefer habe sich „wie kaum ein anderer Künstler um die Aufarbeitung deutscher Geschichte verdient gemacht“, attestierte ihm Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei der Verleihung.
Der Maler und Bildhauer wurde am 8. März 1945 im baden-württembergischen Donaueschingen während eines Bombenangriffs im Keller eines Krankenhauses geboren. Sein Vater war Kunstpädagoge. Nach dem Abitur schrieb er sich zunächst in Freiburg für Jura und Romanistik ein, bevor er Malerei studierte. Schon mit seiner Abschlussarbeit an der Karlsruher Kunstakademie sorgte er 1969 für Aufruhr: Für die Fotoserie „Besetzungen“ porträtierte er sich an verschiedenen europäischen Orten mit Hitlergruß in der Wehrmachtsuniform seines Vaters.
Ende der 1960er Jahre sei es wichtig gewesen, das Thema des Nationalsozialismus ins Gedächtnis zu rufen und daran zu arbeiten, erklärte Kiefer dazu später in einem Fernsehinterview. „Ich habe jedem einen Spiegel vors Gesicht gehalten.“ Gut zehn Jahre später sorgte Kiefers Auftritt im Deutschen Pavillon bei der Biennale in Venedig für Empörung: Dort zeigte er Gemälde wie „Deutschlands Geisteshelden“ oder „Noch ist Polen nicht verloren“.
Zu diesem Zeitpunkt sei Kiefers Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus einfach noch nicht verstanden worden, urteilt der Regisseur Wim Wenders. Er drehte über den Künstler den dokumentarischen Film „Anselm. Das Rauschen der Zeit“, der 2023 in die Kinos kam. Gerade Kiefers Unerschrockenheit, sich der Vergangenheit zu stellen, mache ihn zu einem der größten Gegenwartskünstler, das ist Wenders Meinung: „Es gibt keinen Maler, der sich so viel traut.“
Im Ausland fand Kiefers Arbeit schon früher Anklang. Von 1987 bis 1989 gingen seine Werke mit großem Erfolg auf Tournee durch vier führende US-Museen, darunter das Museum of Modern Art in New York. 1990 wurde er mit dem israelischen Wolf-Preis ausgezeichnet, 1999 mit dem japanischen Praemium Imperiale. Auch in Frankreich, wo Kiefer sich 1992 niederließ und heute sein Atelier im Pariser Vorort Croissy-Beaubourg betreibt, genießt er hohes Ansehen. 2009 erhielt er in Paris den Adenauer-de Gaulle-Preis.
Kiefers oft großformatige Gemälde erinnern häufig an verbrannte Landschaften oder an eine vom Sturm aufgewühlte See. Immer wieder tauchen Flugzeuge oder Kriegsschiffe auf, aber auch Blumen. Treppen und Leitern führen ins Ungewisse. Die Farbe ist in dicken Lagen aufgetragen. Risse oder Löcher geben den Blick auf tieferliegende Schichten frei. Kiefer verarbeitet Materialien wie Zweige, Stroh oder andere Pflanzenteile. Er bearbeitet seine Bilder mitunter auch mit dem Gasbrenner oder übergießt sie mit flüssigem Blei.
Die Motive seiner Bilder setzt Kiefer auch in Skulpturen um. So schuf er etwa Flugzeuge und Bücher aus Blei, meterhohe Wendeltreppen oder Türme. In Kiefers Arbeiten gebe es kein Tempus der Vergangenheit, sondern alles existiere gleichzeitig, erklärte der Kunsthistoriker und Autor Florian Illies bei der Verleihung des Deutschen Nationalpreises an Kiefer. „Geschichte hat keine Chronologie bei ihm, sondern durchläuft eine ewige Metamorphose.“ Kiefer selbst fühlt sich nie angekommen, sondern „immerzu auf dem Weg“, wie er in dem Film von Wim Wenders erklärt.
So versucht er sich auch im Alter weiter an neuen Projekten. Im vergangenen Jahr brachte er zusammen mit dem Filmemacher Alexander Kluge ein Buchprojekt heraus, das Text, Fotografien und über QR-Codes abrufbare Filmsequenzen kombiniert. An einem weiteren Vorhaben arbeitet er noch: Vor einigen Jahren kaufte der Künstler sein früheres Elternhaus im badischen Ottersdorf, das er sanieren ließ und zu einem „Museum als Studien- und Wirkstätte junger Künstlerinnen und Künstler“ ausbauen will.