Als Trash-TV noch skandalös war
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Fans verfolgten 2001 das Finale der Fernsehsendung "Big Brother - die Entscheidung" auf einer Videowand auf dem NOB-Studiogelände.
Vor 25 Jahren startete die umstrittene Fernsehsendung "Big Brother"
Köln (epd).

Als am 1. März 2000 Andrea, John und Jürgen und andere gecastete „Normalos“ in den „Container“ des Privatsenders RTL II ziehen, sehen viele Medienkritiker den Untergang des Abendlandes gekommen. Die Idee des Fernsehformats „Big Brother“, das jetzt 25 Jahre alt wird: Die Kandidaten leben dort drei Monate lang unter Rund-um-die Uhr-Beobachtung durch TV-Kameras.

Der damalige rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (SPD) hatte in der „Bild am Sonntag“ öffentlichkeitswirksam ein Verbot gefordert, die Landesmedienanstalten leisteten Widerstand, die Bundesregierung nannte die Sendung „skandalös“, die „Bild“-Zeitung schrieb von „Pfui-TV“.

Mit „Big Brother“ gehe das „Trash-TV“ einen weiteren Schritt in den Abgrund der Menschenverachtung, befürchteten Medienkritiker. In Richtung Totalüberwachung, wie sie in George Orwells dystopischem Science-Fiction-Roman „1984“ beschrieben wird, wo die Beobachtungslinsen des „Großen Bruders“ alles sehen, alles hören und alles unerwünschte Verhalten sanktionieren. Die Privatsphäre und damit die Freiheit sind in Orwells Roman abgeschafft. Die Befürchtung der Kritiker beim Start der Sendung von RTL II: psychologische Kandidatenerniedrigung zur Publikumsbelustigung.

Der Plan von „Big Brother“, das schon 1999 in den Niederlanden überaus erfolgreich angelaufen war: Während der drei Monate im „Container“ werden die Bewohner der Fernseh-WG ununterbrochen von der Außenwelt abgeschnitten, mit der realen Welt verbunden nur durch die Stimme des „Großen Bruders“, der Handlungsanweisungen und Spielregeln per Durchsage gibt. Eine kommunikative Einbahnstraße.

Nach und nach werden heimlich auf die Abschussliste gesetzte Mitstreiter durch die Zuschauer herausgewählt. Dem letzten Bewohner winken eine satte Geldprämie und die Erkenntnis, dem Voyeurismus der Nation zum Opfer gefallen zu sein.

Oder auch nicht. Denn was einst mit Verbotsforderungen und hitziger öffentlicher Debatte begann, wurde, o Wunder, schon in der ersten Staffel zum von Kulturkritikern bejubelten „Sozialexperiment“. „Reality“-Star wurde zum Brotberuf. Authentizität, echt oder gespielt, zum Karrierebooster der Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Jüngere Zuschauer kennen vermutlich zwar Zlatko, einen der Stars der ersten „Big Brother“-Stunde, nicht mehr - zur Erinnerung: einen Automechaniker, der Shakespeare für ein Hopfengetränk hielt und auch sonst unterhaltsame Klopper raushaute. Aber dafür haben sie vielleicht von Jürgen Milski gehört, der später als „Ballermann-Sänger“ Karriere machte und noch immer durch die „Reality“-Formate spaziert.

Harry, Sabrina, Alida - nicht wenige der WG-Bewohner der ersten Staffeln wirkten nahbar und sympathisch, trotz TV-Stresstest. Daneben gehören auch „Fieslinge“ zum festen Repertoire der Besetzung von „Reality“-Formaten. Kein „TV-Knast“ ohne Schleimer, Schleicher und Betrügerrollen.

Immer noch interessant bleibt die fast komplette Kehrtwende der öffentlichen Meinung im Jahr 2000. Der anschwellende „Big Brother“-Hype der ersten Staffel endete nicht einmal mit dem Finale am 18. Mai und dem Auszug des Gewinners John. Zuvor war Verona Feldbusch, heute Pooth, als Übernachtungsgast mit eigener Chemietoilette eingezogen. Selbst im Feuilleton überschlug man sich. Alle lebten gut von der Aufmerksamkeit, die von den „Big Brother“-Machern als Teil der Unterhaltung eingepreist war.

Andererseits: Normalen Leuten rund um die Uhr beim Dasein zuzuschauen, das kann auch ganz schön langweilig werden. Das von John de Mol („Endemol“) erfundene „Big Brother“-Format wurde zeitweilig von Privatsender zu Privatsender gereicht, machte wegen Quotentiefs jahrelang Pause und wird nun, in der aktuellen 15. Staffel, beim Streamingdienst „Joyn“ zu sehen sein, sowie in Zusammenschnitt-Shows bei „Sixx“.

Es gab und gibt „Promi-Big Brother“. Eine Staffel versuchte es mit dem „Big Brother“-„Dorf“ statt WG, mit Aufteilung der Wohnbereiche in „Himmel und Hölle“ samt Rutsche in die Unterwelt, mit einer Art Sklavendienst „armer“ Bewohner für die „reichen“, mit Luxusgewährung und Essensentzug. Trotzdem hat sich die Aufregung um das Format gelegt.

Das „Trash-TV“ ist längst weiter. Schon lange schlucken Kandidaten im „Dschungelcamp“ pürierte Ekelhaftigkeiten und reden über Umstände ihres Stuhlgangs. Anfangs, als bei „Big Brother“ noch von „menschenverachtendem Experiment“ die Rede war, sahen Medienwächter die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des „Dschungelcamps“ bloß als Opfer. 25 Jahre „Big Brother“ - das sind auch 25 Jahre Diskurs über das, was TV-Unterhaltung ist und sein sollte.

Von Heike Hupertz