Am 3. Februar 1965 zeigte sich rund um den Kölner Dom ein ungewöhnliches Bild: Mehrere hundert türkische Gläubige betraten mit Gebetsteppichen unterm Arm das katholische Gotteshaus, um in dessen Nordflügel das Ende des muslimischen Fastenmonats Ramadan zu feiern und gemeinsam zu beten. So beschrieben es damals mehrere Zeitungen, unter anderem der „Kölner Stadt-Anzeiger“ und „Die Zeit“. Doch wie kam es dazu?
Das sei heute tatsächlich gar nicht mehr so leicht nachzuvollziehen, sagt Markus Frädrich, Sprecher des Kölner Doms dem Evangelischen Pressedienst (epd). Das Ereignis sei nur spärlich in den Akten dokumentiert worden. „Nachdem, was uns überliefert worden ist, war es wohl eine spontane Entscheidung.“ So soll am Dom ein Anruf eingegangen sein, in dem es hieß: 2.000 muslimische „Gastarbeiter“ - so wurden die seit 1961 in der Türkei angeworbenen Arbeitskräfte damals bezeichnet - aus den Kölner Ford-Werken wollen sich zum Ende des Ramadan zum Gebet versammeln. Allerdings fehlten dazu die Räumlichkeiten.
Wer genau dann die Zustimmung zu dem muslimischen Gebet im Kölner Dom gegeben habe, sei unklar, sagt Frädrich: „Wir vermuten sehr stark, dass ein einzelnes Mitglied des Domkapitels die Erlaubnis mündlich per Telefon erteilt hat - und zwar relativ kurzfristig. Nachträglich hat das Domkapitel die Entscheidung mitgetragen.“
Im Artikel der „Zeit“ vom 11. Februar 1965 steht, dass das Kölner Domkapitel „im Einverständnis mit Kardinal Frings“ die Erlaubnis dafür gegeben habe. Norbert Feldhoff, Kölner Dompropst zwischen 2004 und 2014, vermutete der Zeitschrift „Geo“ zufolge dagegen, dass Frings' Stellvertreter Wilhelm Cleven die Genehmigung erteilt hatte. Wer auch immer die Entscheidung getroffen hat - der heutige Dompropst Guido Assmann ist sich sicher, dass es „aus einem guten Herzen heraus“ geschah. So sagte er es 2024 in einem Gespräch mit dem Bistumssender „domradio“.
Die Entscheidung, die Muslime im katholischen Dom beten zu lassen, passe auf jeden Fall in den Zeitgeist der 1960er Jahre in Köln, erklärt Frank Seifert. Er ist Doktorand am Institut für Evangelische Theologie an der Universität zu Köln und schreibt seine Doktorarbeit über die Ökumene im Köln der 60er Jahre. Es sei eine Zeit der Umbrüche gewesen, gesellschaftlich, politisch, aber auch religiös. „Die Kirchen standen vor der Aufgabe, wie ihre Theologie in die moderne Welt passe, beziehungsweise wie diese vermittelbar sei. Deshalb hat die katholische Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil den Versuch unternommen, sich der Welt zu öffnen.“
Das Zweite Vatikanische Konzil fand zwischen 1962 und 1965 statt. In vier Sitzungsperioden haben Würdenträger und Bischöfe der katholischen Kirche weitreichende Reformen beschlossen, wie etwa die Anerkennung der Religionsfreiheit. Auch die Ökumene und der Dialog mit nicht christlichen Religionen sollten vorangetrieben werden. So erkannte das Konzil unter anderem die Nähe des Christentums zum Islam an, da beide monotheistische Religionen sind. In der Erklärung „Nostra aetate“ steht, dass die „Heilige Synode“ alle ermahne, „das Vergangene beiseitezulassen“ und „sich aufrichtig um gegenseitiges Verstehen zu bemühen“.
„Einige im Erzbistum Köln wollten Ernst machen und das umsetzen, was im Konzil beschlossen worden ist“, erklärt Doktorand Frank Seifert. Sowohl Kardinal Frings als auch Wilhelm Cleven seien bei den Sitzungen des Zweiten Vatikanischen Konzils dabei gewesen. Auch zeigten sich das Kölner Domkapitel und das Generalvikariat bei manchen Öffnungen des Kirchraums kompromissbereit. Cleven nennt als Beispiel die Beisetzung Konrad Adenauers mit militärischem Geleit und Salutschüssen im Jahr 1967 im Dom. Der 1. FC Köln wird regelmäßig vor Saisonstart in einer Fan-Andacht gesegnet. „Diese Empfänglichkeit hierfür hat vielleicht auch ein bisschen etwas mit der Kölner Mentalität zu tun“, vermutet Seifert.
Trotzdem ist das muslimische Gebet im katholischen Gotteshaus eine einmalige Sache geblieben. Laut Seifert besteht in dieser Singularität die Besonderheit: „Eine katholische Kirche ist laut kanonischem Recht ein heiliger Raum, dessen Sakralität nicht gefährdet werden darf durch einen sogenannten entgegenstehenden Gebrauch. In einem Einzelfall wäre das aber in Ordnung, sofern beispielsweise ein Ordinarius, wie ein Bischof, zustimmt.“ Der Gebrauch der Kirche für andere Zwecke müsse aber „mit der Heiligkeit des Ortes“ vereinbar sein.
Heute stellt sich die Frage nach einer Öffnung des Doms für muslimische Gebete nicht mehr. Es gibt inzwischen genug Moscheen, in denen Muslime ihre Religion ausüben können. Dennoch sei der 3. Februar 1965 ein geschichtsträchtiger Tag gewesen, sagt Frank Seifert: „Es war ein erster Schritt in die Richtung des interreligiösen Dialogs.“
Die muslimischen Gläubigen vor 60 Jahren waren offenbar dankbar: Wie „Die Zeit“ berichtete, warfen sie nach dem Gebet „zum Zeichen persönlichen Dankes Geld in den Opferstock“. Dieses Geld wurde zum Wiederaufbau des Doms verwendet.