Dyskalkulie - die unterschätzte Rechenstörung
s:39:"Mathematikunterricht in der Grundschule";
Mathematikunterricht in der Grundschule
Bad Münstereifel, Alzenau (epd).

Nicht wissen, ob die Zahl Acht größer oder kleiner ist als die Zahl Fünf. Schwierigkeiten beim Abzählen von Gegenständen und dabei, Mengen zu erfassen. All das können Anzeichen sein, dass das Kind von der Rechenschwäche Dyskalkulie betroffen ist. Ursache ist eine neurobiologische Störung. „Sie ist genetisch bedingt“, sagt Annette Höinghaus, Sprecherin des Bundesverbands Legasthenie und Dyskalkulie in Bad Münstereifel. „Kinder entwickeln dann nicht automatisch wie andere Kinder ein Mengenverständnis, obwohl sie genauso begabt sind wie alle anderen auch.“ Das könne bis ins Erwachsenenalter mit Beeinträchtigungen einhergehen.

„Dyskalkulie ist in Deutschland noch nicht so bekannt wie Legasthenie, man erkennt sie oftmals nicht, die Diagnose erfolgt erst spät“, beklagt Höinghaus. Laut einigen Studien litten drei bis sieben Prozent der Menschen unter Dyskalkulie - definiert nach ICD-10, dem Klassifikationsschema der Weltgesundheitsorganisation WHO. Die Kosten einer Therapie müssen laut dem Bundesverband in der Regel privat getragen werden, in einigen Fällen übernimmt das Jugendamt sie.

„Alarmsignale kann man häufig bereits im Vorschulalter erkennen“, weiß Susanne Kraut aus Alzenau bei Aschaffenburg. Seit rund zehn Jahren ist sie Dyskalkulie-Therapeutin. Viele Eltern wie Lehrer könnten die Symptome nicht zuordnen, sagt sie. Es gehe nicht nur um Auffälligkeiten beim Zählen und Umgang mit Mengen. Auch Probleme bei der Auge-Hand-Koordination könnten Hinweise sein. Betroffene Kinder mieden oft das Puzzeln, Lego-Spielen oder auch das Malen.

Als Signale in der ersten und zweiten Klasse nennt Kraut das häufige Verrechnen um eins, Fingerrechnen, Probleme beim Zehnerübergang oder dass Ziffern verdreht oder falsche Rechenarten angewandt werden. Kraut: „Auffällig ist, wenn die Mathe-Hausaufgaben nachmittags kein Ende nehmen und das Fach in der Schule angstbesetzt ist.“

In der Folge sei häufig Prüfungs- oder Schulangst zu beobachten. Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung seien mitunter parallel vorhanden. Dazu komme manchmal eine Anpassungsstörung bis hin zur Depression. „Ich habe leider mehrfach erleben müssen, dass bereits Erst- oder Zweitklässler suizidale Gedanken aufgrund ihrer Rechenprobleme und der Situation in der Schule geäußert haben“, berichtet die Therapeutin. Sie verweist auf eine Studie, veröffentlicht 2019 im „Deutschen Ärzteblatt“, aus der hervorgehe, dass die Wahrscheinlichkeit, depressive Symptome zu entwickeln und später arbeitslos zu werden, erhöht sei.

„Eltern wenden sich an mich, wenn sie den Weg zum Kinder- und Jugendpsychiater gefunden und die Diagnose bei ihrem Kind vorliegen haben, was oft viel zu lange dauert“, sagt Kraut. Ziel der Therapie sei die Stärkung des Selbstwertgefühls des Kindes, den Fokus auf seine Stärken und Begabungen zu lenken.

Wichtig ist spezielles Training der mathematischen Fähigkeiten: Grundlegende Anforderungen sollen im Langzeitgedächtnis abgespeichert werden, wie Additions- und Subtraktionsaufgaben im Zahlenraum bis 20 mit Zehnerübergang, wie Kraut erklärt. Um Rechnungen zu „begreifen“, werden Aufgaben zuerst mit Materialien erarbeitet, im nächsten Schritt bildhaft und symbolisch und dann erst mit Zahlen. Zum Beispiel: Lautet die Rechenaufgabe 12 minus 5, werden zuerst eine Zehnerstange und Einerwürfel genutzt, dann folgt die Darstellung mit roten Punkten für die Einer und einem blauen Strich für die Zehnerstange und dann erst das Rechnen mit Zahlen.

Eltern können mithelfen, indem sie dem Kind spielerisch im Alltag ein Mengen- und Zahlenverständnis vermitteln, man gemeinsam Mengen beim Kochen oder Backen abwiegt, Entfernungen abmisst und mit dem Kind die Uhrzeit zu verstehen übt, wie Höinghaus ergänzt. Wichtig seien Erfolgserlebnisse.

„Häufig ist ein Kind, das bereits die dritte Klasse besucht, noch auf dem Rechenniveau eines Erstklässlers“, erklärt die Expertin. Umso wichtiger sei darum, dass die Lehrkräfte die Schüler dort abholten, wo sie stünden und Verständnis dafür zeigten, dass den Kindern noch viele Basisfertigkeiten des Rechnens fehlten. Sie plädiert - wie bei Legasthenie - für einen Nachteilsausgleich in Form eines Zeitzuschlages oder Überlassung von Hilfsmitteln bei Tests und Klassenarbeiten.

Beide Expertinnen fordern eine bundeseinheitliche Anerkennung der Dyskalkulie. „In einigen Bundesländern gibt es für die Grundschulzeit die Möglichkeit eines Nachteilsausgleichs oder zurückhaltende Benotung“, erklärt Höinghaus. Aber diese Möglichkeit ende mit der Grundschulzeit. © epd-bild / Gustavo Alabiso

Von Claudia Kroll-Kubin (epd)