Sabine Beller sitzt auf einem Sofa im ersten Obergeschoss der Familienherberge Lebensweg in Illingen-Schützingen (Enzkreis). Neben ihr sitzt im Rollstuhl ihr 14-jähriger Sohn Silas, der die seltene Stoffwechselerkrankung «Morbus Hunter» hat. Bereits zum dritten Mal verbringen sie hier ein paar Tage Urlaub. «Am meisten genieße ich die Nächte», erzählt sie. Ihr Sohn hat immer wieder epileptische Anfälle und wird deshalb nachts von einem Epilepsiewarngerät und einem Pulsoximeter überwacht, das die Sauerstoffsättigung im Blut und die Herzfrequenzen kontrolliert. «Ich schlafe in einem Bett neben ihm und werde oft von verschiedenen Fehlalarmen aus dem Schlaf geschreckt.»
Dass da kein tiefer Schlaf möglich ist, ist klar. In der Familienherberge kümmert sich ein Pflegeteam nachts um ihren Sohn und sie kann in einem anderen Zimmer mal richtig entspannen. «Am Anfang war es für mich ungewohnt, Silas in fremde Hände abzugeben, aber nun ist es Erholung pur.» Ähnlich geht es der alleinerziehenden Mutter beim Essen. «Daheim ist es so, dass ich mir mein Essen kleinschneide, damit ich es mit der rechten Hand aufgabeln kann, während ich mit der linken Hand Silas füttere. Das ist sozusagen Stereo-Essen.» Hier, in Illingen-Schützingen, genießt sie es, in aller Ruhe die Mahlzeiten einzunehmen - während ihr Kind betreut ist.
Seit 2018 besteht die Familienherberge, die in dieser Form einmalig in Deutschland ist. Aufgebaut wurde sie von Karin Eckstein, die als ambulante Kinderkrankenschwester in die Häuser von pflegenden Eltern kam und merkte: Alle haben unter dem Strich die gleichen Sorgen und Probleme. «Sie können sich nicht erholen und ihr Leben ist bestimmt vom Tagesplan des kranken Kindes.» Oft leidet unter der enormen Belastung auch die Paarbeziehung der Eltern, die vor allem als Arbeitsteam funktionieren müssen, weiß sie. Außerdem hätten die Eltern nicht selten das Gefühl, den Geschwisterkindern nicht wirklich gerecht werden zu können.
Diesen besonders herausgeforderten Familien einen Ort zu schaffen, an dem die gesamte Familie eine Auszeit genießen kann und das erkrankte oder behinderte Kind auf Wunsch der Eltern rund um die Uhr betreut wird, wurde der Traum für Karin Eckstein.
Doch von Anfang an war die Finanzierung eine Herausforderung: Auch wenn die Familien einen Beitrag für ihre Unterkunft bezahlen und Geld von den Krankenkassen für die sogenannte «Grundpflege» oder teilweise auch «Intensivpflege» beantragt werden kann, deckt das die entstehenden Kosten nicht ab. «Da fehlen uns, wenn wir nicht ganz voll belegt sind, zwischen 30 und 40 Prozent pro Kind und Tag.»
Denn im Haus gibt es nicht nur eine intensive Betreuung, in der sich eine Pflegekraft jeweils um ein oder zwei Kinder kümmert, sondern auch Sozialpädagoginnen und Kreativpädagoginnen, die den Familien ein Programm anbieten. Zusätzlich gibt es eine Sozialberaterin, die Eltern bei der Antragsstellung und anderer Bürokratie berät.
Damit das Haus bestehen kann, braucht es Spenden. «Ein Fundraising-Team und ein Förderverein sorgen dafür, dass unsere finanzielle Situation stabil bleibt», erklärt Eckstein und erzählt von bewegenden Begegnungen: Von einem Nachbarskind, das eine Handvoll Taschengeld abgibt, einem Strickkreis, der für die Familienherberge strickt und großzügigen Spenden von Unternehmern, Stiftungen und anderen Organisationen, die dafür sorgen, dass die Einrichtung bestehen kann.
Sie hofft, dass der Aufenthalt in ihrem Haus vielleicht bald als präventive Kurmaßnahme für pflegende Eltern anerkannt wird, als Familienerholung, und dann etwas mehr Gelder fließen. Denn es gibt riesigen Bedarf: Laut der Kinderpflege-Studie 2023 leben rund 272.000 pflegebedürftige Kinder und Jugendliche bis 19 Jahre in Deutschland.
Insgesamt hat die Familienherberge Kapazität für neun Kinder mit Familien. Doch derzeit können nur etwa sieben Familien gleichzeitig betreut werden, sagt Eckstein. «Leider können wir im Moment nicht voll belegen. Das tut uns in der Seele weh, weil uns im Moment das Pflegepersonal fehlt.»
Dass die Familienherberge Lebensweg bereits seit mehreren Jahren trotz aller Herausforderungen besteht, ist für die überzeugte Christin ein Wunder Gottes. «Und die schönsten Erlebnisse sind für mich, wenn ich sehe, wie die Eltern von Tag zu Tag sichtbar erholter sind.»
Das ist auch bei Sabine Beller der Fall. Gestern Abend sei sie mit einer anderen Mutter im Atelier des Hauses kreativ gewesen und habe genäht, erzählt sie, anschließend hätten die beiden dann noch ein Gläschen Wein getrunken und sich über ihre Situation ausgetauscht. Morgen steht dann noch eine Klangmassage an und ihr Sohn darf ins therapeutische Reiten: «Hier kann man neue Kraft tanken, wenn der Akku leer ist.»