Der sexuelle Kindesmissbrauch in Behinderteneinrichtungen der DDR muss nach Überzeugung von Betroffenen und Experten besser aufgearbeitet werden. Betroffene hätten bis heute Schwierigkeiten, Anerkennung für erlittenes Leid und Unrecht zu bekommen, sagte die Sozialwissenschaftlerin und Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, Julia Gebrande, am Dienstag in Potsdam bei einem Fachgespräch zum Thema. Die Kommission war 2016 auf Beschluss des Bundestags eingesetzt worden.
Gebrande betonte, Grund für die Defizite sei auch eine „ideologisch motivierte Schweigepraxis“. Die Tabuisierung des Missbrauchs in der DDR wirke bis heute nach. Die Aufarbeitung könne Unrecht zwar nicht ungeschehen machen, aber zur Anerkennung von Unrecht führen. Anett Zimmermann, Betroffene von Missbrauch in der DDR, sagte, darüber zu sprechen helfe, die eigene Geschichte aufzuarbeiten und anderen Betroffenen Mut zu machen.
Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, betonte, Missbrauch und Gewalt habe es auch in Behinderteneinrichtungen in der BRD gegeben. Der entscheidende Unterschied bestehe jedoch darin, dass es in der BRD andere Kontroll- und Verfolgungsmöglichkeiten durch die unabhängige Justiz gegeben habe, sagte Dusel dem Evangelischen Pressedienst (epd) am Dienstag: „Insofern gab es durchaus ein DDR-spezifisches Unrecht, da der Staat und die SED systematisch die Taten an Menschen mit Behinderungen vertuscht haben.“ Dort habe es so gut wie keine Kontrolle gegeben, was in den Einrichtungen stattfand, sagte Dusel bei dem Fachgespräch.
Brandenburgs Aufarbeitungsbeauftragte Maria Nooke sagte, die Erfahrungen der Betroffenen seien „in unserer Gesellschaft viel zu lange tabuisiert“ worden. Die Aufarbeitung stehe „leider noch ziemlich am Anfang“. Diese sei jedoch wichtig, um die Würde der Betroffenen zu wahren und zu ihrer Entstigmatisierung beizutragen. Sie sei auch Voraussetzung dafür, dass sich die Spirale sexualisierter Gewalt nicht fortsetze.
Der Medizinhistoriker Heiner Fangerau betonte, Betroffene hätten ein Recht auf Aufarbeitung. Die Dokumentation von Fällen sei in der DDR jedoch sehr lückenhaft. Das Thema sei von „täuschen, tarnen, vertuschen“ geprägt gewesen. Es sei wichtig, in Unterlagen auch zwischen den Zeilen zu lesen. Auch Stasi-Akten sollten in der Forschung herangezogen werden. Informationen zu Taten von Stasi-Leuten seien dort jedoch nicht zu erwarten. In jedem Fall sei wichtig, eine Kultur des Hinsehens zu schaffen, um weitere sexuelle Gewalt zu verhindern.
Dusel betonte, viele DDR-Akten zum Thema seien verschwunden oder schwer auffindbar. Die noch vorhandenen Akten müssten gesichert, Täterinnen und Täter identifiziert und Strukturen aufgedeckt werden, wo dies noch nicht geschehen sei. In der DDR seien Behinderteneinrichtungen oft isoliert und staatlich abgeschirmt gewesen. Dies habe Missbrauch begünstigt. Die gesellschaftliche Diskussion darüber sei bislang „unzureichend und schleppend“ verlaufen, sagte Dusel dem epd. Aufarbeitung und Forschung seien nötig, „um den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und das Tabu zu brechen“.