"Eine schlimme Vergangenheit"
Eine NS- und DDR-Gedenkstätte bietet Führungen für Behinderte an
Potsdam (epd).

Barockes Stadtpalais im holländischen Stil, rote Ziegelfassade, vergitterte Fenster: Mitten im touristischen Zentrum von Potsdam steht ein Denkmal aus dem 18. Jahrhundert, hinter dessen historischer Architektur sich ein Ort von Unrecht und Terror verbirgt. In der NS-Zeit hatte dort ein „Erbgesundheitsgericht“ seinen Sitz, im Gefängnisbau im Hof wurden politische Gegner und „rassisch“ Verfolgte inhaftiert. In der DDR war der Gebäudekomplex ein Untersuchungsgefängnis der Stasi. Seit 1995 ist der Ort eine Gedenkstätte. Inzwischen wird dort versucht, mit einem inklusiven Angebot auch Menschen mit Behinderungen zu erreichen.

Inklusion und Barrierefreiheit hätten einen hohen Stellenwert in der Arbeit der Gedenkstätte, sagt die Historikerin Maria Schultz, die die Gedenkstätte Lindenstraße seit gut drei Jahren leitet: „Wir wünschen uns, dass das historische Gebäudeensemble mit seiner Dauerausstellung und die breitgefächerten Bildungsangebote allen Besuchendengruppen zur Verfügung stehen.“ Sie wolle damit dem vielfältigen Charakter der Gesellschaft Rechnung tragen, betont sie. Eine Haftzelle wurde inzwischen für Tastführungen für Blinde und Sehbehinderte hergerichtet. Seit einigen Monaten gibt es einen elektronischen Gedenkstättenguide in deutscher Gebärdensprache.

Der Durchgang durch den Barockbau an der Straße führt zu einem geöffneten Metalltor, dahinter weitere Metalltore, alte Überwachungskameras, die einst das Gelände im Blick hatten, an einigen Stellen massive Metallgeflechte mit scharfen Spitzen, die ein Entkommen verhindern sollten. Im Hof fünf wenige Quadratmeter große „Freigangzellen“ mit Betonboden, Rauhputz, nach oben offen und mit Maschendraht gesichert.

An diesem Tag sind zwölf Männer und Frauen in der Gedenkstätte zu Gast, die am Morgen mit ihren Betreuern in Ostbrandenburg mit dem Bus aufgebrochen sind, um an einer Führung in Leichter Sprache teilzunehmen. Im Alltag arbeiten sie in Werkstätten der diakonischen Stephanus-Stiftung. Sie haben unterschiedliche kognitive und körperliche Einschränkungen, der Älteste ist 63, die Jüngste 19 Jahre alt.

Gedenkstättenpädagogin Martina Reimann lässt noch einmal Revue passieren, was bereits vorher bei einem Workshop erarbeitet wurde: Unterschiede zwischen Diktatur und Demokratie, zwischen DDR und Nationalsozialismus. „Wer wurde in der Nazizeit verfolgt?“, fragt sie. „Die Juden“, sagt ein Mann. „Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle“, sagt eine Frau. „Politische Gegner“, sagt eine andere Frau. Dann beginnt die Führung zur NS-Zeit.

Es geht um die Verfolgung behinderter Menschen, Zwangssterilisierungen, Tötungsverbrechen, Opfer und Täter. Was aus den NS-Verantwortlichen nach dem Krieg geworden sein könnte, fragt die Gedenkstättenpädagogin. „Selbstmord“, schlägt eine Frau vor. „Abgehauen“, eine andere. „Versteckt“, sagt ein Mann. Dann erfahren sie, dass die beiden Männer, die vorgestellt wurden, später wieder in ihren alten Berufen als Arzt und als Richter gearbeitet haben.

Die Führung ist Teil des Modellprojekts „Vergangenheit verstehen“, das von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert wird. „Es wird sehr gut angenommen“, sagt Reimann. Nicht nur aus Brandenburg, auch aus weiter entfernten Orten hätten sich Interessierte gemeldet.

Bei der Führung werden weitere NS-Verbrechen besprochen und Haftzellen gezeigt. Die Frauen und Männer mit Handicap sind konzentriert bei der Sache, hören aufmerksam zu, sehen sich auch auf eigene Faust um. „Hier wird alles gut erklärt“, sagt Mike, einer von ihnen, nach dem Ende des Rundgangs. Eine normale Führung hätte er schwierig gefunden, betont er. „Eine schlimme Vergangenheit“, sagt Kerstin, eine Frau aus der Gruppe: „Ich möchte nicht, dass sich die wiederholt.“

Von Yvonne Jennerjahn (epd)