212 Patienten haben im zurückliegenden Jahr den sogenannten Anonymen Krankenschein Thüringen (AKST) für 650 Behandlungen genutzt. Dabei richtet sich das Angebot an geschätzt bis zu 21.000 Menschen im Freistaat, sagt der Projektkoordinator des gemeinnützigen Vereins, Tim Strähnz. An landesweit 37 Ausgabestellen könnten Patienten über den Verein einen begutachtenden Arzt konsultieren, um einen AKST zu erhalten. Der garantiert eine Kostenübernahme bis zu 500 Euro für Behandlungen in einer frei zu wählenden Arztpraxis.
Die für den Mediziner abrechenbaren Leistungen entsprechen in weiten Teilen denen der gesetzlichen Krankenversicherung. Auch teurere Behandlungen seien möglich, müssten jedoch im Voraus beim AKST beantragt werden.
Die Zahl der Patienten stieg ständig an, doch die Projektmittel im Landeshaushalt sind begrenzt - 2024 auf rund 465.000 Euro. „Der Anstieg ist auf einen gewachsenen Bekanntheitsgrad unseres Angebots zurückzuführen“, sagt Strähnz. Zum Start 2017 seien gerade mal 76 Krankenscheine für 40 Patienten abgerechnet worden.
Damals verfolgte das im Jahr zuvor vom Freistaat aufgelegte Angebot laut Sozialministerium vor allem das Ziel, Ausländern ohne gültigen Aufenthaltsstatus eine medizinische Versorgung zu ermöglichen. Auf dem Höhepunkt des Zustroms von Geflüchteten nach Deutschland mussten Betroffene in Thüringen ihre Ausweisung befürchten, sobald sie Gesundheitsleistungen in Anspruch nahmen.
„Schnell hat sich herausgestellt, dass nicht nur Geflüchtete Bedarf anmeldeten“, sagt die Sprecherin des Ministeriums, Silke Wiesenthal. Soloselbstständige, Obdachlose, mental eingeschränkte Menschen oder Suchtkranke müssten hohe Hürden überwinden, um in die Krankenversicherung zurückzukehren.
Deshalb wird jedem Antragsteller parallel zur Klärung seiner medizinischen Probleme ein Clearingverfahren angeboten, um in die gesetzliche Krankenkasse zurückzukehren. 2023 konnte der Verein bei etwa einem Drittel der 80 Patienten, die das Clearing durchlaufen haben, die Krankenversicherung wieder herstellen oder einen anderen Kostenträger für die Behandlung finden, sagt Strähnz.
Auch Detlef nutzt den Anonymen Krankenschein. Er habe es aufgegeben, sich mit „der Kasse rumzustreiten“. Der Erfurter ist Rentner und lebt seit mehr als einem Jahr ohne festen Wohnsitz in der Landeshauptstadt. Jahrelang selbstständig, habe er die Beiträge für die private Krankenversicherung nicht mehr bezahlen können. Die Behandlung über den AKST stellt für ihn einen einfachen Weg dar, einen Arzt zu finden. Die Möglichkeit nutze er aber nur, wenn es wirklich sein müsse: „Ich will niemandem zur Last fallen.“
Thüringen ist Vorreiter bei der Ausgabe von anonymen Kranken- oder Behandlungsscheinen, aber nicht das einzige Bundesland, das in identischer oder leicht abgewandelter Form Hilfe anbietet. Unterstützung gibt es zum Beispiel auch durch Clearingstellen in Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Berlin, die jedoch nur eine begrenzte Zahl von Behandlungen pro Jahr ermöglichen. In Sachsen, wo es diese Hilfe nur in Leipzig gibt, wurden 2023 rund 1.200 Behandlungen registriert.
Daneben gibt es auch das Modell einer direkten Hilfe über ehrenamtlich organisierte Sprechstunden. Ob mit oder ohne Krankenschein: Der Bedarf an solchen Angeboten ist hoch. Laut Statistischem Bundesamt lebten 2019 zwar weniger als ein Prozent der Erwerbstätigen ohne Krankenversicherungsschutz. Hochgerechnet auf heutige Zahlen entspricht das aber rund 460.000 Personen.
Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft Anonyme Behandlungsschein- und Clearingstellen für Menschen ohne Krankenversicherungsschutz geht von hunderttausenden Betroffenen in Deutschland aus. Zwar habe die amtierende Bundesregierung den Zugang zur Krankenversicherung für Menschen mit ungeklärtem Versicherungsstatus klären wollen. Doch bewegt habe sich seit 2021 nichts. Vorerst bleiben die Modelle für die Behandlung von Menschen ohne Gesundheitsversorgung dauerhafte Notlösungen.