Religionsexpertin: Nahostkonflikt verunsichert viele Lehrkräfte
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Nina Kaesehage ist Religionsexpertin und Extremismusforscherin und leitet das "Haus der Religionen" in Hannover
"Haus der Religionen" bildet Pädagoginnen und Pädagogen fort
Hannover (epd).

Der Terrorangriff der radikalislamischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und der Nahostkonflikt belasten das Miteinander an deutschen Schulen. Viele Lehrkräfte seien verunsichert, wie sie den Nahostkonflikt im Unterricht angesichts der zum Teil hochemotionalen Stimmung thematisieren sollen, sagt Nina Käsehage im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Religionsexpertin und Extremismusforscherin leitet das vom „Haus der Religionen“ in Hannover initiierte Pilotprojekt „Der globale Konflikt im Klassenzimmer - Antisemitismus trifft auf antimuslimischen Rassismus“. Ziel des vom niedersächsischen Kultusministerium finanzierten Programms ist es, Lehrkräfte themenbezogen zu unterstützen und Unterrichtmaterialien zu entwickeln.

epd: Frau Käsehage, wie ist die Situation an den Schulen, was spiegeln Ihnen die Lehrkräfte?

Nina Käsehage: Die Ereignisse des 7. Oktobers 2023 haben dazu geführt, dass der Nahostkonflikt Einzug in die Mitte unserer deutschen Gesellschaft gefunden hat. Dieser Konflikt gefährdet neben anderen extremistischen Bedrohungslagen, die etwa von der neuen Rechten oder radikalislamischen Bewegungen ausgehen, das friedliche Zusammenleben. Betroffen sind auch besonders vulnerable Gruppen wie Kinder und Jugendliche, die aufgrund ihres Alters und Entwicklungsstatus eines besonderen Schutzes bedürfen.

Wir haben infolge dieser Ereignisse sehr viele Anfragen von Lehrerinnen und Lehrern erhalten, weil der Nahostkonflikt zu Unstimmigkeiten, Auseinandersetzungen und Konflikten innerhalb ihrer Klassen geführt hat. Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus gab es bereits vor dem 7. Oktober, aber danach hat sich das Problem noch einmal verschärft. Lehrkräfte sind zum Teil sehr verunsichert und wissen nicht, wie sie mit diesem Konflikt im Unterricht umgehen sollen.

epd: Wo wird das Problem spürbar?

Käsehage: Das gilt insbesondere für den Religionsunterricht, aber auch für den Politik- und Geschichtsunterricht. Die Lehrkräfte möchten nichts falsch machen oder sich unabsichtlich an einer antisemitischen oder rassistischen Rhetorik beteiligen. Mit Blick auf die zunehmenden Übergriffe auf jüdische Mitbürger müssen wieder größere Schutzräume etabliert werden - auch in Schulen.

All das führt dazu, dass Lehrkräfte didaktische und inhaltliche Unterstützung benötigen, um sich handlungssicherer zu fühlen. Das Projekt „Der globale Konflikt im Klassenzimmer“ will Lehrkräfte fachlich unterstützen und Schülerinnen und Schüler ermöglichen, über ihre Sorgen und Nöte zu sprechen. Das Haus der Religionen verfügt als einzigartige Bildungseinrichtung über sachbezogene Informationen zu den Themen Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus.

epd: Was konkret leistet das Projekt „Der globale Konflikt im Klassenzimmer“?

Käsehage: Das rund einjährige Projekt fußt auf zwei Säulen. Zum einen hospitieren wir an den Schulen in den Unterrichtsfächern, die sich mit den Themen Judentum, Islam, Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus befassen - dazu führen wir Interviews mit der Lehrer- und Schülerschaft. Zum anderen bieten wir auf Basis dieser empirischen Erhebungen passgenaue Weiterbildungen für die Lehrkräfte an. Darin thematisieren wir etwa verschiedene Ursprünge des Nahostkonflikts und schauen uns an, wie es zur Ausbildung antisemitischer und antimuslimischer Narrative kommen kann.

Unsere pädagogischen und didaktischen Handreichungen und Social-Media-Trainings unterstützen die Lehrkräfte und die Schülerschaft dabei, Fake News und Desinformationskampagnen erkennen zu können. Dadurch sollen besonders Schülerinnen und Schüler davor geschützt werden, extremistische Inhalte unreflektiert zu übernehmen.

epd: Können Sie das näher erläutern und Beispiele nennen?

Käsehage: Ziel sowohl der antisemitischen als auch antimuslimischen Inhalte auf Social Media ist es, die Deutungshoheit über das Geschehene zu erlangen und vulnerable Minderjährige zu instrumentalisieren. Diese Desinformation wirkt insbesondere außerhalb des Unterrichts, etwa auf dem Pausenhof und in der Freizeit auf junge Menschen ein - weitaus stärker als die Lehrerinnen und Lehrer das oft wahrnehmen.

Nationalsozialistisch geprägte Begriffe wie „Kulturkreis“ werden gegenwärtig von der Neuen Rechten wieder salonfähig gemacht und Kinder und Jugendliche durch rechtspopulistisch initiierte Begriffe wie die Bezeichnung „Kopftuchmädchen“ aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit bewusst ausgegrenzt. Sie werden dadurch außerhalb ihrer eigenen Klassengemeinschaft gestellt, indem ihnen ihre individuelle Identität abgesprochen wird.

epd: Wie sieht Ihrer Ansicht nach ein verantwortungsvoller Umgang der Lehrkräfte mit dem Nahostkonflikt angesichts dieser Herausforderungen aus?

Käsehage: Es geht darum, in den Klassenräumen eine möglichst sachliche, unaufgeregte Diskussion zu führen und zu verhindern, dass Schülerinnen und Schüler in einen Radikalisierungstunnel abtauchen, dessen Weg ihnen von extremistisch motivierten Akteuren geebnet wird.

Es muss klar sein, dass an Schulen keine antisemitischen, antimuslimischen und rassistischen Narrative toleriert werden. Beide Gewaltphänomene, Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus, müssen erkannt und im Unterricht behandelt werden. Unser Projekt und die damit verbundenen Fortbildungen befähigen Lehrkräfte dazu. Die Schulgemeinschaft wird in die Lage versetzt, religionsbezogene Diskriminierung zu erkennen und sich gemeinsam dagegen zu positionieren.

epd-Gespräch: Julia Pennigsdorf