"Ich wähle Angela Merkel"
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Verein organisiert symbolische Bundestagswahl fuer Gefluechtete
Verein organisiert symbolische Bundestagswahl für Geflüchtete
Osnabrück, Hannover (epd).

Mit konzentriertem Blick lauschen die etwa 20 Männer und Frauen in dem Seminarraum in Osnabrück den Worten von Mina Oubelouali (37). Die Leiterin der internationalen Frauengruppe beim Verein Exil erläutert den Teilnehmenden eines Deutschkurses für Ausländer, welche Abstimmungsmöglichkeiten sie bei der Bundestagswahl hätten. Sie hält einen Stimmzettel in die Höhe und zeigt auf die beiden Spalten: „In jeder Spalte dürft ihr nur ein Kreuz machen.“

Bei der echten Bundestagswahl dürfen die Sprachschülerinnen und -schüler nicht wählen. Laut Statistischem Bundesamt betraf das Ende 2024 in Deutschland rund 14,1 Millionen ausländische Bürger. An diesem Tag dürfen Migranten und Geflüchtete in Osnabrück von 10 bis 19 Uhr dennoch ihre Stimme abgeben. Der Flüchtlingshilfe-Verein Exil hat an zwei Standorten eine symbolische Bundestagswahl für Menschen ohne Wahlberechtigung organisiert.

„Weil Migration das beherrschende Wahlkampfthema ist, wollen wir deutlich machen, dass viele Stimmen bei der Bundestagswahl fehlen werden“, erläutert Lara Benteler von Exil. „Geflüchtete und Migranten haben nicht die Chance, zu sagen, wie sie zu diesem Diskurs stehen.“ Gemeinsam mit Sprachkurs-Anbietern haben Exil-Mitarbeitende für die symbolische Wahl geworben und die Schüler bereits während der Unterrichtsstunden darauf vorbereitet.

Auf einigen Gesichtern der Ausländer im Seminarraum breitet sich Skepsis aus. Viele haben die Erläuterungen nicht richtig verstanden. Oubelouali, die aus Marokko stammt, wechselt ins Arabische. Ein Mann ruft: „Ich wähle Angela Merkel.“ Ein weiterer stimmt ihm zu. Beiden drohe die Abschiebung, erzählen sie. Sie wissen, dass die Ex-Bundeskanzlerin gar nicht kandidiert. Aber die CDU-Politikerin steht offenbar bei Geflüchteten noch immer hoch im Kurs.

Shala (19) aus Syrien, die nur ihren Vornamen nennen möchte, sagt, sie habe Angst davor, wie es nach der Wahl weitergeht. Sie lebt seit drei Jahren in Deutschland. Zuvor war sie schon in der Türkei, durfte dann über den Familiennachzug zu ihrer Schwester nach Osnabrück reisen. Angesichts der Debatten über Grenzschließungen und „Remigration“ fragt sie sich, ob sie bleiben darf. „Aber ich fühle mich in Deutschland sicherer als in Syrien und der Türkei und möchte hierbleiben.“

Kai Weber vom Flüchtlingsrat bestätigt, dass viele Geflüchtete derzeit in Angst lebten, abgeschoben zu werden oder ihre Familie nicht nach Deutschland holen zu können. Andere überlegten angesichts der Stimmung, das Land von sich aus zu verlassen. „Selbst einige langjährige Mitarbeitende des Flüchtlingsrates fühlen sich hier unerwünscht.“

Im Exil-Wahllokal meldet Sherwan (28) sich zu Wort. Der Kurde aus Syrien lebt seit zwei Jahren in Deutschland. Er möchte sich gerne für die Gesellschaft in Deutschland engagieren. Er glaubt, die Flüchtlinge könnten viel zum Wohlstand in Deutschland beitragen: „Ich würde deshalb eine Partei wählen, die nicht gegen Migranten ist.“

Hinter welcher Partei er bei der symbolischen Wahl seine zwei Kreuze gemacht hat, will Sherwan aber nicht verraten. Dazu hat er hinter einer provisorischen Sichtschutzwand Platz genommen. Schließlich sei die Wahl geheim. Jetzt faltet er den Wahlzettel und wirft ihn mit einem Lächeln in die Urne.

Am Ende des Tages haben 300 Menschen an der symbolischen Wahl teilgenommen. Der Gewinner ist mit großem Abstand die SPD mit 47,6 Prozent der Zweitstimmen. Dahinter folgen Grüne (13,4), CDU (13,1) und Linke (8,4). Bei den Erststimmen ist die Verteilung ähnlich. Alle anderen Parteien, auch die AfD, scheiterten an der Fünf-Prozent-Hürde.

Alejandra Bedoya (31) hat am Morgen um 10 Uhr als allererste ihre symbolische Stimme abgegeben. Die studierte Non-Profit-Managerin aus Kolumbien arbeitet seit einem Jahr als Ehrenamts-Koordinatorin beim Verein Exil. Sie lebt seit dreieinhalb Jahren in Osnabrück und kennt die Abwehrhaltung gegen Migranten aus ihrer Heimat. Dort fürchteten die Einheimischen sich vor der Überfremdung durch Geflüchtete aus dem Nachbarland Venezuela.

Bedoya ist überzeugt, dass nur Begegnungen der Menschen untereinander das Misstrauen zerstreuen könne. „Zuwanderung bedeutet doch auch Bereicherung“, betont die junge Frau. Sie überlegt, so bald wie möglich die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen: „Ich möchte nicht mehr Mittelpunkt der Diskussionen sein, sondern selbst mitbestimmen.“

Mina Oubelouali ist diesen Schritt bereits gegangen. Im September, acht Jahre nach ihrer Ankunft in Deutschland, wurde sie eingebürgert. „Jetzt fühle ich mich endlich als vollwertiger Teil der Gesellschaft.“ Sie findet, die künftige Bundesregierung sollte darüber nachdenken, Migranten früher ein Wahlrecht zuzugestehen. „Man könnte die Wahlberechtigung zum Beispiel an die Niederlassungserlaubnis knüpfen. Die bekommen Ausländer nur, wenn sie ihren Lebensunterhalt verdienen und Steuern und Rentenbeiträge zahlen. Dann sollten sie auch wählen dürfen.“

Von Martina Schwager (epd)