Als Firmensitz des Impfstoffentwicklers Biontech wurde Mainz zu einem der wenigen Gewinner der Coronavirus-Krise. Doch nach Steuermehreinnahmen in Milliardenhöhe macht sich mittlerweile wieder Ernüchterung breit.
Mainz (epd). Was es bedeutet, wenn öffentliche Kassen leer sind, weiß Claudius Moseler nur zu gut. Seit Jahren ist der Diplom-Geograf Mitglied der kleinen ÖDP-Fraktion im Mainzer Stadtrat und amtiert außerdem als Ortsvorsteher im Vorort Marienborn. Egal, ob es darum ging, eine Straße verkehrsberuhigt umzubauen, um einen neuen Belag für den Sportplatz oder um die Neugestaltung des tristen Platzes vor seiner Ortsverwaltung - immer habe es in der Stadtverwaltung geheißen, es sei kein Geld da, berichtet er: „Vor Corona hat man nur geflickt.“
Ausgerechnet die Pandemie, deretwegen die ganze Welt im Lockdown landete, wurde zum Wendepunkt für die Landeshauptstadt am Rhein. Die weltweite Vermarktung des Biontech-Impfstoffs bescherte dem Unternehmen, das seinen Firmensitz unter der Mainzer Adresse „An der Goldgrube“ registriert hat, gigantische Gewinne - und dem städtischen Kämmerer einen ganz realen Goldregen: Allein 2021 führten die Gewerbesteuern von Biontech der Stadt zu einem Haushaltsüberschuss von über einer Milliarde Euro.
Als Nino Haase Anfang 2023 zum Oberbürgermeister gewählt wurde, war die notorisch verschuldete Stadt praktisch schuldenfrei. Eine höhere zweistellige Millionensumme jährlich werde dadurch allein an Zinszahlungen eingespart, rechnet der parteilose Stadtchef vor. „Manchmal reichen der Mut und die Idee Einzelner, um das Schicksal einer Stadt zu drehen“, sagt Haase. „Es lohnt sich, an Erfolg zu glauben.“ Mainz werde dank Biontech jetzt auch international anders wahrgenommen, die Stadt gewinne als Biotechnologie-Standort immer mehr an Bedeutung.
Die an Mangelverwaltung gewohnte Kommune konnte sich nach 2021 plötzlich viele Dinge leisten, die zuvor undenkbar gewesen wären: Die Gewerbesteuern wurden gesenkt, die städtische Wohnbaugesellschaft konnte finanziell stabilisiert werden. Am ersten Samstag im Monat ist der ÖPNV in Mainz für alle kostenfrei. Unter anderem dank des Ankaufs von Immobilien weisen die städtischen Bilanzen erhebliche Vermögenswerte auf.
Viele Entscheidungen seien zwar richtig gewesen, aber es habe kaum noch Diskussionen gegeben, wie das Geld sinnvoll ausgegeben werden sollte, bemängelt Stadtrat Moseler. „Natürlich stand die Frage im Raum, was passieren würde, wenn die Pandemie vorbei wäre“, erinnert der Kommunalpolitiker. Als es so weit gewesen war und nicht mehr in jeder Stadtratssitzung triumphierend die Höhe der liquiden Mittel bekanntgegeben wurde, habe sich gezeigt, dass die Strukturprobleme der Stadt nicht gelöst waren.
Die nicht gegenfinanzierten Ausgaben im Sozialbereich schätzt auch Oberbürgermeister Haase mittlerweile auf 300 Millionen Euro pro Jahr. Egal ob Sozialhilfe für Altenheimbewohner, Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderung oder Zahlungen des Jugendamtes - die Fallzahlen stiegen fortlaufend an, die Personalkosten ebenso. „Und die Fälle werden immer komplexer“, berichtet er. Das gelte ebenfalls für die immer komplizierteren Vergabeverfahren.
Drei Jahre nach dem Biontech-Coup musste Finanzdezernent Günter Beck (Grüne) 2024 verkünden, dass die goldene Ära wieder vorbei sei. Schon im vergangenen Jahr entging die Landeshauptstadt nur knapp einer Blamage: Die rheinland-pfälzische Aufsichtsbehörde ADD hatte die Genehmigung eines Nachtragshaushalts verweigert, erst eine unerwartete Gewerbesteuernachzahlung wendete das Blatt. Für 2025 wird laut Haushaltsplan ein Defizit von 134 Millionen Euro erwartet. Ob er genehmigt wird, ist noch offen, teilt die ADD auf Nachfrage mit.
Was die Lage der zwischenzeitlich finanziell gesundeten Stadt verschlimmerte: Mainz fiel dank der Biontech-Millionen aus Förderprogrammen von Bund und Land. Allein über den kommunalen Finanzausgleich erhielt Mainz laut Oberbürgermeister einst 100 Millionen Euro im Jahr. Nun bleibe die Kommune erst einmal bis mindestens Ende 2026 Geberstadt. „Wenn dann plötzlich die Einnahmen wegfallen, die als Bemessungsgrundlage dienen, haben wir einfach 100 Millionen weniger“, sagt Haase. „Das System verändert sich immer mit einer gewissen Trägheit.“ Fest steht: Trotz Goldgrube muss die Stadt den Gürtel wieder enger schnallen.
www.mainz.de