"Pass besser auf, wo du hingehst!"
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Der Oberbürgermeister der Stadt Hanau, Claus Kaminsky (SPD).
Bürgermeister in Hessen werden zunehmend bedroht

Bürgermeisterinnen und Bürgermeister werden häufiger beschimpft und angegriffen. Der hessische Innenminister spricht von einer Gefahr für die Demokratie.

Frankfurt a.M., Wiesbaden (epd). „Ich war überrascht, wie immens die Form der verbalen Gewalt und die Bereitschaft zur physischen Gewalt gegen Bürgermeister ist“, sagt Nora Zado, die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Demokratiezentrums Hessen in Marburg, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Sie erhielten Drohungen, wie: „Pass mal besser auf, wo du hingehst!“ oder „Der Mossad schickt Dir ein Erschießungskommando!“. Die Kulturwissenschaftlerin hat 20 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Hessen zu ihren Gewalterfahrungen befragt und arbeitet an einer qualitativen Studie darüber. Anlass war das erschreckende Ergebnis einer Umfrage.

Für die quantitative Studie der Gießener Kriminologin Britta Bannenberg 2021 wurden alle 422 hessischen (Ober-)Bürgermeisterinnen und (Ober-)Bürgermeister schriftlich nach ihrer Betroffenheit von Gewalt und Aggressionen gefragt. Die Hälfte antwortete - ein außergewöhnlich hoher Rücklauf, wie Zado sagt: „Die Zahlen waren schockierend - alle Rückmelder waren betroffen.“ Demnach gaben etwa knapp 60 Prozent der Bürgermeister an, mehrfach schriftlich beleidigt worden zu sein, 37 Prozent im direkten Kontakt. Eine Todesdrohung per Brief hatten knapp acht Prozent der Bürgermeister erhalten, 3,6 Prozent waren schon einmal geschlagen worden. Diese und weitere Zahlen werden durch die bundesweite Befragung des Kommunalen Monitoring (Motra) bestätigt.

Beschimpfungen, Beleidigungen, Belagerung

Viele dieser Phänomene kann der dienstälteste Oberbürgermeister Hessens, Claus Kaminsky (SPD) in Hanau, bestätigen. Auch er habe Beschimpfungen, Beleidigungen, Drohungen, Bedrohung der Familie, Belagerung seines Wohnhauses und Eierwürfe dagegen erlebt, berichtet er dem epd. Der Oberbürgermeister reagierte mit Strafanzeigen, Hausverbot und Abstandsverfügungen. „Für mich ist mein Beruf Berufung und davon lasse ich mich auch nicht durch solche Angriffe abbringen“, bekräftigt Kaminsky.

Der 65-jährige Oberbürgermeister beobachtet eine Entwicklung, dass der Umgang mit Bürgermeistern und Kommunalpolitikern respektloser und rücksichtsloser wird. „Ich bin seit 1995 Berufspolitiker und zu Beginn meiner Zeit gab es ab und an einen anonymen Brief, der mal beleidigend war“, berichtet er. Doch insbesondere die Anonymität des Internets und der unpersönliche Kontakt über Social Media erleichterten es, zu beschimpfen, zu beleidigen und zu drohen.

Besorgniserregender Trend

Der hessische Innenminister Roman Poseck (CDU) bestätigt den besorgniserregenden Trend: Die Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger in Hessen seien im vergangenen Jahr um die Hälfte auf 478 Fälle gestiegen. „Angriffe auf Politiker, insbesondere auf Kommunalpolitiker, sind eine Gefahr für unsere Demokratie“, betont Poseck.

Die Wissenschaftlerin Zado hat in ihren Gesprächen zwei größere Gruppen von Angreifern ausgemacht. Die eine seien Politiker, die ihre Konkurrenten mit Angriffen unter der Gürtellinie niedermachen wollten. Die andere große Gruppe seien normale Bürger. „Viele halten offenbar zunehmend die Kommunalpolitik für Dienstleister“, sagt die Wissenschaftlerin. „Wenn die dann nicht spurt, rastet man aus.“ Manche Kommunen würden zum Schutz der Mitarbeitenden Glaswände hochziehen, Notfallknöpfe anbringen oder das Rathaus nur noch nach Terminanmeldung öffnen.

„Wir haben ein Problem in der Akzeptanz der Kommunalpolitik“, stellt Zado fest. Kommunen müssten mehr Geld bekommen, um politische Prozesse und Entscheidungen der Öffentlichkeit erklären zu können.

Wachsendes Hilfsangebot

Die betroffenen Amtspersonen können inzwischen auf ein wachsendes Hilfsangebot zurückgreifen. Die Ansprechstelle „Stark im Amt“ der Kommunen, Landkreise und Körber-Stiftung, die Beratungsstelle Hate Aid oder die Beratungsnetzwerke der Bundesländer bieten Unterstützung. In allen hessischen Polizeipräsidien gibt es Ansprechpersonen für die Prävention vor politisch motivierter Kriminalität. Gegen online zugeschickte Drohungen wurde 2020 die Meldestelle „HessenGegenHetze“ geschaffen.

Die meisten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister zeigen nach Zados Erfahrung eine erstaunlich große Leidensfähigkeit, nehmen aber nicht alle Angriffe hin. Wenn allerdings in Zukunft immer weniger Menschen bereit wären, ein politisches Ehrenamt anzunehmen, „werden die Bedrohungen zu einer Systemfrage für Demokraten“, warnt die Wissenschaftlerin. „Alle Bürger und Bürgerinnen sollten für diese Problematik sensibilisiert und bereit sein, sich in kommunalpolitische Prozesse einzubringen. Denn was kaputtgeht, ist nicht nur eine Einzelperson, sondern unsere Kommunalpolitik.“

Studie Gewalt gegen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Hessen 2021:

http://u.epd.de/3dej

MOTRA Frühjahrsbefragung 2024: http://u.epd.de/3dei ; MOTRA: http://u.epd.de/2xff

Hilfsportale: www.stark-im-amt.de ; www.beratungsnetzwerk-hessen.de

Online-Hilfen: www.hateaid.org ; www.hessengegenhetze.de

Von Jens Bayer-Gimm (epd)