Der Blick hinter Gefängnismauern war schon vor Jahrhunderten ein fesselndes Motiv für die Kunst. Rembrandt malte die Zuchthäuser seiner Zeit, Courbet porträtierte sich in der Zelle. Auch heute zeigt Kunst aus dem Gefängnis extreme Lebenssituationen.
Frankfurt a. M. (epd). Der Mann mit dem roten Halstuch sitzt am vergitterten Fenster, den Blick abwesend nach unten Richtung Innenhof gerichtet. Dieses Selbstbildnis des französischen Malers Gustave Courbet (1819-1877) entstand während seiner Haft im Jahr 1872. Dem Mitglied der Pariser Kommune wurde eine Beteiligung an der politisch motivierten Zerstörung der Vendôme-Säule zur Last gelegt, der Künstler musste für ein halbes Jahr ins Pariser Gefängnis Sainte-Pélagie. Dort durfte er aber malen - es entstanden Stillleben und das bekannt gewordene Selbstporträt.
Das Schicksal der meisten Gefängnisinsassen und Straftäter aber bleibt dem Blick entzogen, genauso wie die Zustände innerhalb der Gefängnismauern. Simon Mraz, der lange das österreichische Kulturforum in Moskau leitete, organisierte mit seinem Verein Artmov zur Förderung „künstlerischer Mobilität“ sowie „geistigen Austauschs zwischen Russland, Belarus und dem westlichen Europa“ im November 2024 ein Symposium in Wien, das sich internierten russischen Künstlern widmete. Mit seinem Blut koloriert beispielsweise der russische Aktionskünstler Pawel Krisewitsch Zeichnungen von Eingesperrten in Häftlingskleidung. Ihr Antlitz ist nicht mehr diesseitig, sondern ein Totenkopf.
Jede im Gefängnis entstandene Arbeit sei „aus einer extremen Lebenssituation heraus geschaffen“, sagt Mraz. Solche Kunstwerke seien ein „Ruf aus einer Zelle hinaus in die Freiheit und an ein Publikum“ und schafften es „unter Erfüllung von Auflagen immer wieder nach draußen“.
Ein Schlaglicht auf die Institutionalisierung des Strafvollzugs im 17. Jahrhundert in der europäischen Metropole Amsterdam wirft die Ausstellung „Rembrandts Amsterdam“ im Frankfurter Städel (bis 23. März). Sie kehrt eingefahrene Perspektiven auf das sogenannte Goldene Zeitalter um und blickt ausdrücklich vom unteren Ende der gesellschaftlichen Leiter auf die Epoche. Es wächst das Interesse der Forschenden an jenen, die zu Lebzeiten keine Stimme hatten und in den Prachtgemälden der Regenten und Vorsteher der Anstalten - imposante Gruppenporträts und Tischgesellschaften zumeist - bloß Staffage sind. „Wir werfen einen ungeschönten Blick auf die Wirklichkeit“, verspricht Städelchef Philipp Demandt.
Dazu gehören auch Gefängnisse und Verurteilte. Die „bis auf die Knochen bürgerliche Stadt“ Amsterdam, wie sie Kurator Jochen Sander nennt, dachte nach seinen Worten als erste in Europa Strafvollzug und Resozialisierung zusammen - oder was man damals darunter verstand. Sie lieferte die Blaupause für disziplinierende Einrichtungen in ehemaligen katholischen Klöstern, Rasphuis und Spinhuis genannt und als Zwangsarbeitsstätten eingepasst in kapitalistische Wertschöpfungsketten: Männer raspeln im Zuchthaus rotes Holz, um Farbstoff zu gewinnen, Frauen spinnen.
Die Schau fokussiert als erste auch aus der Perspektive Inhaftierter die Rembrandtära, öffnet die Pforten zu frühen Waisen- und Zuchthäusern. Rembrandt verewigt Schicksale am Rande der Gesellschaft wie das der 18-jährigen Elsje Christiaens: wegen Totschlags 1664 stranguliert und auf Amsterdams Galgenfeld zusammen mit der Tatwaffe - einem Beil - als abschreckendes Beispiel sichtbar für alle aufgehängt.
Andere Künstler zeichnen die Verwesende - wie etwa auch der Maler Théodore Géricault später Leichenteile studiert -, um ihre Kunst zu vervollkommnen. Für anatomische Studien landen hingerichtete Straftäter auf den Seziertischen von Chirurgen, ein Seeräuber oder der tote Dieb, den Rembrandt 1632 in der „Anatomievorlesung des Dr. Nicolaes Tulp“ ins Bildzentrum rückt.
Die Schau zeigt auch eine Aktstudie, die Forschenden zufolge den zu 30 Jahren Haft verurteilten Aron Abrams darstellen könnte. Sollte dies zutreffen, dann läge, so Sander, „ein singuläres Zeugnis“ für das Porträt eines Amsterdamer Zuchthausinsassen der Vormoderne vor, für ihn eine kunsthistorische Sensation.
Wie künstlerisch talentiert mancher Häftling ist, macht in der Gegenwart der Berliner Verein Art and Prison e.V. publik, der in bisher 15 Jahren rund 2.500 Kunstwerke Inhaftierter gesammelt und mehr als 40 internationale Ausstellungen organisiert hat. Über Kunstwettbewerbe habe man „einige 1.000 Menschen für Kunst interessieren können, die zuvor rein gar nichts damit zu tun hatten“, erklärt der Vorsitzende Peter Echtermeyer, der 25 Jahre als Gefängnisseelsorger tätig war.
Er beklagt, dass Ausgaben für den Justizvollzug und somit für pädagogische Programme „unpopulär und politisch nicht erfolgsrelevant“ seien. Dabei führe der schöpferische Akt unter Bedingungen des Freiheitsentzugs zu „einer neuen Selbst- und Fremdwahrnehmung“ und könne positive Bedingungen für die Zeit danach schaffen. Die nächste Ausstellungsreihe des Vereins findet anlässlich des „Heiligen Jahres“ in Rom statt. Ihr Motto: „Hoffnung“.
Städel / Rembrandt-Ausstellung: http://u.epd.de/37c2
Verein Art and Prison: http://u.epd.de/3bef
Verein Artmov: https://www.artmov.at/