Kirchenpräsident Jung: Kirche ist was anderes als ein Verein
Frankfurt a.M. (epd).

Zum Ende seiner Amtszeit blickt der hessen-nassauische Kirchenpräsident Volker Jung nachdenklich zurück. Dass die Zahl der Kirchenmitglieder deutlich sinkt, mache ihm zu schaffen, räumt der 64 Jahre alte evangelische Theologe wenige Wochen vor seinem Ruhestand ein. „Den Trend zur Säkularisierung sehen wir überall auf der nördlichen Welthalbkugel“, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd) und fügte hinzu: „Und trotzdem tut es weh, weil ich denke, dass wir als Kirche gute Arbeit leisten und versuchen, für die Menschen da zu sein.“

epd: Herr Jung, Sie sind exakt 16 Jahre Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) gewesen, wenn Sie zum Jahreswechsel in den Ruhestand gehen. In dieser Zeit ist die Zahl der Mitglieder um rund ein Viertel gesunken auf etwa 1,3 Millionen. Haben Sie das 2009 zu Beginn Ihrer Amtszeit kommen sehen?

Volker Jung: Ein Rückgang war damals schon absehbar. Allerdings war der zunächst sehr viel geringer, das hat sich in den vergangenen Jahren noch mal deutlich beschleunigt.

epd: Betrübt Sie das?

Jung: Das macht mir schon zu schaffen. Auch wenn ich weiß, dass man das kaum einer persönlichen Amtsführung oder bestimmten Entscheidungen zurechnen kann. Den Trend zur Säkularisierung sehen wir überall auf der nördlichen Welthalbkugel. Und trotzdem tut es weh, weil ich denke, dass wir als Kirche gute Arbeit leisten und versuchen, für die Menschen da zu sein.

epd: Sie haben sich dem Thema sehr intensiv gewidmet als Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats für die bundesweiten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen. Deswegen die Frage: Was erwarten die Menschen von der evangelischen Kirche, was sie momentan offenbar nicht bietet?

Jung: Ich glaube nicht, dass wir bestimmte Erwartungen nicht erfüllen. Man erwartet, dass Kirche für Menschen da ist, vor allem in Notsituationen. Man erwartet, dass Kirche sich gesellschaftlich engagiert, dass Kirche diakonisch präsent ist. Und das leisten wir.

epd: Warum wenden sich die Menschen dennoch ab?

Jung: Wir wissen aus den Untersuchungen, dass Religion und Glaube für Menschen an Bedeutung verlieren. Das hat aus meiner Sicht auch etwas damit zu tun, dass sehr viele Menschen, und das ist ja auch eine positive Entwicklung, in Deutschland ein gutes Leben führen können.

epd: Andererseits sinkt die Lebenszufriedenheit angesichts der zunehmenden Krisen in der Gegenwart. Kriege und die Klimakatastrophe seien als Beispiele genannt.

Jung: Das stimmt, aber das Angebot für Menschen, sich Orientierung zu suchen, ist auch gerade in der digitalen Welt ungeheuer groß geworden, da braucht es nicht unbedingt einen religiösen Bezug. Gemeinschaften findet man vielerorts. Und dennoch bin ich überzeugt: Wir dürfen als Kirche nicht nachlassen, die Lebensrelevanz von Glauben zu zeigen, und dass Menschen in kirchlicher Gemeinschaft Halt finden und Glaube Orientierung geben kann.

epd: Sie haben 2019 vorgeschlagen, Kita-Plätze in evangelischen Einrichtungen bevorzugt an Familien zu vergeben, die der Kirche angehören. Warum ist das nicht flächendeckend umgesetzt?

Jung: Ich hatte nicht vorgeschlagen, Plätze bevorzugt zu vergeben. Ich hatte angeregt, darüber nachzudenken, ob wir sicherstellen können, dass Kirchenmitglieder, die ihre Kinder in eine kirchliche Kita schicken wollen, auch einen Platz bekommen.

Wir haben uns dann umgehört, und die meisten unserer Kindertagesstätten haben gesagt: Wer als Kirchenmitglied zu uns kommt, dessen Kind bekommt in der Regel einen Platz, das ist kein Problem. Den anderen haben wir vorgeschlagen, mit ihren Kommunen zu vereinbaren, dass ein bestimmtes Kontingent gezielt an Kirchenmitglieder vergeben werden kann. Einige haben das meines Wissens auch gemacht.

epd: Gibt es denn andere Überlegungen, wie man Kirchenmitgliedern in irgendeiner Form noch einmal entgegenkommen kann?

Jung: Die gibt es, aber ich bin da skeptisch. Denn wer Kirchensteuer zahlt, leistet einen Beitrag für eine Kirche, die sich für alle öffnet. Das kann man nicht vergleichen mit einem Verein oder anderen Organisationen, die unmittelbar individuelle Bedürfnisse befriedigen. So etwas wie eine Membercard wäre meines Erachtens nicht kirchengemäß. Ich glaube, es gibt keine andere Möglichkeit, als immer wieder deutlich zu machen, dass wir als Kirche wirklich für alle da sein wollen.

epd: Wird es absehbar die Kirchensteuer in Deutschland noch lange geben, wo doch die Kirchenbindung so stark abnimmt?

Jung: Ich hoffe es, aber das kann ich wirklich nicht sagen. Die Vorzüge liegen für mich auf der Hand. Die Kirchensteuer ist sehr solidarisch, wie auch das staatliche Steuersystem: Wer mehr zahlen kann, zahlt mehr. Und rund 50 Prozent unserer Mitglieder zahlen gar nichts, weil sie ein geringes Einkommen haben oder gar keines, wie Kinder oder Rentnerinnen und Rentner.

Wenn es keine Kirchensteuer gäbe, würden wir mit Mitgliedsbeiträgen nicht annähernd einen Beitrag aufbringen, mit dem wir so viel für die Gesellschaft leisten können wie heute. Das fängt beim Erhalt der Kirchengebäude an, die man als Kulturgut verstehen sollte, und geht bis zu dem Geld, das wir als Kirche auch für die Kitas ausgeben. Natürlich sind die zum größten Teil staatlich finanziert, aber allein im Haushalt der hessen-nassauischen Kirche stehen jährlich rund 60 Millionen Euro für Kitas zur Verfügung.

epd: Wegen der sinkenden Mitgliederzahlen gehen die Steuereinnahmen zurück. Die EKHN muss bis 2030 jährlich 140 Millionen Euro aus dem Haushalt streichen. Wie kommt die Kirche bei dem Prozess „ekhn2030“ voran?

Jung: Wir sind bei etwa 100 Millionen Euro jährlichen Einsparungen, und die Sparvorgaben sind in einigen Arbeitspaketen noch nicht vollumfänglich erreicht. Daran arbeiten wir, und zwar in enger Abstimmung mit unserer Kirchensynode.

epd: Heißt das, auch den Beamtenstatus der Pfarrerschaft infrage zu stellen, wie das der Prälat der kurhessischen Landeskirche, Burkhard zur Nieden, mit Blick auf die Pensionslasten getan hat?

Jung: Der Beamtenstatus ist schon länger ein Thema. Entscheidend ist, was man als Verpflichtung an die nächste Generation weitergibt. Wird sie noch in der Lage sein, sich finanziell zu bewegen? Oder fließt das Geld irgendwann nur noch in Pensionszahlungen? Allerdings ist gerade für den Pfarrdienst ein langes Studium notwendig. Dafür muss es eine Gegenleistung in Form einer guten Vergütung geben. Ein Teil davon ist bisher die Pensionszahlung.

epd: Wie sieht es mit dem besonderen Verhältnis der Arbeitgeberin Kirche zu ihrem Personal aus, ist das alles auch in einem Angestelltenverhältnis regelbar?

Jung: Meines Erachtens muss unter anderem unbedingt geprüft werden, was dies in disziplinarrechtlicher Hinsicht bedeutet. Dies gilt insbesondere im Blick auf das Thema sexualisierter Gewalt.

epd: Wie verändert das Sparen die EKHN?

Jung: Alle Kürzungsentscheidungen sind schwierig, weil überall sinnvolle und gute Arbeit geleistet wird. Es ist schlichtweg schmerzlich, wenn man eine bestimmte Arbeit beenden muss. Wir sehen natürlich, dass es insbesondere Stellen in Einrichtungen trifft, die übergemeindlich agieren, weil die Sogkraft der gemeindenahen Stellen größer ist.

epd: Was heißt das konkret?

Jung: Die EKHN hat die Ausdifferenzierung der Gesellschaft sehr früh wahrgenommen. Die Antwort darauf war, das Angebot zu vervielfältigen, weil Menschen unterschiedliche Formen von Kirche brauchen. Mit der halben Stelle im Fußballstadion in Frankfurt oder mit der Motorradseelsorge haben wir Menschen in Lebensbezügen erreicht, die wir in den Gemeinden nicht erreichen. Wenn solche und weitere ähnliche Angebote jetzt wegfallen, könnten wir unsere Pluralität verlieren. Das schwächt die kirchliche Arbeit. Ich bin froh, dass einige dieser Angebote ehrenamtlich fortgeführt werden.

Informationen zum Reformprozess „ekhn2030“: http://u.epd.de/389w

epd-Gespräch: Renate Haller und Karsten Frerichs