
Die evangelische Kirche muss fragen, was die Menschen brauchen, sagt Dorothee Wüst. Die pfälzische Kirchenpräsidentin fordert, dass diese sich auch politisch äußert: für soziale Gerechtigkeit und Demokratie. Am 25. März wird die Westpfälzerin 60.
Speyer, Frankfurt a.M. (epd). Für sie ist es nicht nur ein abgenutzter Spruch, dass die Kirche „nahe bei den Menschen sein“ müsse. Dorothee Wüst ist präsent in der Pfalz und Saarpfalz: Sie steigt als Gastpredigerin auf Kanzeln, spricht bei Diskussionsforen über Gott und die Welt, sucht das Gespräch „mit de Leit'“, wie man dort sagt. Die pfälzische Kirchenpräsidentin ist greifbar. Am 25. März wird Dorothee Wüst 60 Jahre alt.
Die gebürtige Pirmasenserin bekleidet zahlreiche Ämter in Kirche und Gesellschaft. Sie setzt sich dafür ein, dass Betroffene von Missbrauch in der Kirche Gerechtigkeit erfahren - als Sprecherin der kirchlichen Beauftragten im „Beteiligungsforum sexualisierte Gewalt“ der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und ihrer Diakonie. Die langjährige Autorin von Verkündigungsbeiträgen gehört dem Rundfunkrat des Südwestrundfunks (SWR) an. Und seit Januar ist sie als Aufsichtsratsvorsitzende des Gemeinschaftswerkes der evangelischen Publizistik (GEP) in Frankfurt am Main die oberste Wächterin über die evangelische Publizistik.
Mit optimistischer Grundstimmung und Humor
Bei allem Erfolg auf der kirchlichen Karriereleiter ist Dorothee Wüst bodenständig und uneitel geblieben. Trotz großer Herausforderungen für eine schrumpfende Kirche hat sie ihre optimistische Grundstimmung und ihren Humor nicht verloren. Die Kirche habe eine gute Zukunft, aber sie müsse sich wandeln: „Wir müssen fragen, was die Menschen brauchen“, sagt sie.
Daher unterstützt Wüst den Versuch der Pfälzer Kirche, ihre Mitglieder gezielter in ihren jeweiligen Lebenssituationen anzusprechen und sie zu begleiten: über digitale Grüße zur Taufe eines Kindes, zur Hochzeit oder zur Konfirmation etwa. Oder durch das seelsorgerliche Angebot des neuen mobilen „Segensbüros“.
Wüst ist ein Kind der Westpfalz: Sie wuchs in einem Arbeiterviertel in der verarmten ehemaligen Schuhmetropole Pirmasens auf. Nach dem Theologiestudium in Mainz und in Heidelberg wurde sie Pfarrerin in Kaiserslautern und Weilerbach und schließlich Dekanin von Kaiserslautern. 2021 wurde sie als erste Frau an die Spitze der Evangelischen Kirche der Pfalz gewählt. Als Seelsorgerin weiß sie, wie die Menschen in der strukturschwachen Region mit ihrer hohen Arbeitslosigkeit ticken, sie spricht ihrer Sprache.
Auch deshalb ist die verwitwete Theologin „erschüttert“ vom Wahlerfolg der AfD in Kaiserslautern, wo sie mit ihrer Tochter lebt. Mit 25,9 Prozent fuhr die in Teilen rechtsextreme Partei dort das im Westen höchste Zweitstimmenergebnis bei der Bundestagswahl ein - vor dem nordrhein-westfälischen Gelsenkirchen. Sie könne es nachvollziehen, dass viele Menschen in der Region angesichts ihrer schwierigen Lebenssituation wütend und frustriert seien, sagt sie. Die Kirche sei gefordert, mit diesen im Gespräch zu bleiben und auf sie einzuwirken.
Nicht den Mund verbieten lassen
Den Mund dürfe sich eine Kirche, die sich aktiv für das Gemeinwohl einsetze, nicht verbieten lassen, sagt Wüst. „Sie hat die Verpflichtung, sich politisch zu äußern.“ Allerdings solle sie dies nicht parteipolitisch tun. Die Kirchenpräsidentin steht weiterhin zu einem gemeinsamen Wahlaufruf mit dem Speyerer katholischen Bischof Karl-Heinz Wiesemann: Beide hatten sich dafür ausgesprochen, keine Parteien zu wählen, die fremden- und demokratiefeindliche Positionen vertreten. Auch den scharfen Schwenk der Christdemokraten in der Migrationspolitik verurteilten sie.
Wüst hat einen liberalen Geist, sie steht für Freiheit, Vielfalt, Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit - auch in der globalen Perspektive. Noch drei Jahre dauert ihre Amtsperiode als Kirchenpräsidentin. Sie will ihre Kirche mitgestalten, solange es geht, für Familie, die Freunde und das Trompetenspiel bleibt nur wenig Zeit: „Ich würde die Transformation unserer Kirche gerne weiter begleiten.“
Ein Herzensanliegen ist ihr die Aufarbeitung und die Prävention von Missbrauch in der Kirche. Wichtig sei es nun, gemeinsam mit Betroffenen geeignete Maßnahmen zu entwickeln, damit sexuelle Gewalt in Kirche und Diakonie so gut als möglich verhindert werden könne.
Ohne großes Tamtam will Dorothee Wüst am 25. März ihren Geburtstag feiern, es wird ein normaler Arbeitstag im Speyerer Landeskirchenrat sein. „Für meine Mitarbeitenden gibt es ein Glas Sekt, abends gehe ich essen mit meiner Familie und Freunden.“