"Es geht sofort in Richtung einer Agenda"
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Professor Tanjev Schultz bewertet die Debatte nach Aschaffenburg
Professor Tanjev Schultz bewertet die Debatte nach Aschaffenburg
Aschaffenburg, Mainz (epd).

Nur wenige Stunden nach dem tödlichen Messerangriff von Aschaffenburg wurde eine asylpolitische Debatte losgetreten: Eine schärfere Migrationspolitik wurde gefordert, Politiker schoben einander die Verantwortung für die Bluttat zu, bei der zwei Menschen getötet und drei teils schwer verletzt wurden. Tatverdächtig ist ein vermutlich psychisch kranker, ausreisepflichtiger 28-jähriger Afghane. Wie diese Debatte in Politik und Medien ethisch zu bewerten ist, erläutert Journalismusprofessor Tanjev Schultz aus Mainz im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

epd: Herr Schultz, schon kurz nach dem Ereignis wurde öffentlich bereits die Schuldfrage diskutiert und über die Asylpolitik gestritten. Kann das politische, gesellschaftliche und mediale Deutschland nicht erst mal innehalten?

Tanjev Schultz: So ein verbaler Aktionismus ist nach solchen Ereignissen leider öfter zu beobachten. Es wird der Trauer kein Raum gegeben. Und es wird nicht abgewartet, bis der Sachverhalt feststeht und die tatsächlichen Versäumnisse klarer sind. Es geht sofort in Richtung einer Agenda und Stimmungen zu schüren, statt aufzuklären.

epd: Waren die politischen Reaktionen diesmal besonders krass, mitten im Wahlkampf?

Schultz: Es entspricht einem Muster, was nach Verbrechen oder Terroranschlägen passiert. Auch nach dem Umsturz in Syrien wurden sofort Stimmen laut, Geflüchtete wieder dorthin abzuschieben - obwohl noch niemand weiß, wie sich die Lage entwickelt. In Wahlkampfzeiten fallen solche Reaktionen natürlich verschärft aus.

epd: Ist es nicht vorstellbar, dass ein Politiker einfach mal sagt: Wir trauern nun erst mal, wenigstens bis nach dem Gedenkgottesdienst? Oder dass ein Medium erst mal nicht über die politischen Forderungen berichtet?

Schultz: So etwas gab es auch schon. Aber diesmal wurde das Geschehen sofort beurteilt, Stimmungen wurden verstärkt. Kritisch ist, wenn Maßnahmen wie umfassende Einreiseverbote gefordert werden, die vermutlich nicht umsetzbar sind, und so falsche Erwartungen geschürt werden. Die Sachlage ist zudem komplex: Nach bisherigem Stand ist der Täter psychisch krank. Das ändert vieles. Man müsste den Blick etwa darauf richten, wie Geflüchtete besser psychiatrisch versorgt werden können. Damit hängt aber zusammen, dass die psychiatrische Versorgung für alle Menschen in Deutschland verbesserungswürdig ist.

epd: Wo wird der politische Schlagabtausch ethisch-moralisch fragwürdig?

Schultz: Natürlich hat die deutsche Politik in erster Linie die Aufgabe, die deutsche Bevölkerung zu schützen. Aber von einem universalethischen Standpunkt aus ist es fragwürdig oder gar verantwortungslos zu fordern, dass psychisch Kranke ausgewiesen werden sollen - in Länder, wo die Versorgung noch viel schlechter ist. So wird Leid nur verlagert.

epd: Wie sollten sich die Medien verantwortungsvoll verhalten?

Schultz: Die Medien wollen sich nicht dem Vorwurf aussetzen, irgendetwas zu verharmlosen. Doch es ist eine Frage der Qualität. Am Sonntag habe ich einen Fernsehbeitrag gesehen, bei dem in einer deutschen Stadt Bürgerinnen und Bürger befragt wurden, ob sie sich durch Migration überlastet fühlen. Die Aussagen hatten alle einen seltsamen Unterton, und „die Migranten“ wurden alle in einen Topf gerührt, sodass dieses Narrativ „Wir versus die anderen“ bedient wurde.

epd: Es wurden journalistische Qualitätskriterien wie Ausgewogenheit oder Vollständigkeit verletzt?

Schultz: Ja, und so wird Berichterstattung unterkomplex. Wenn ich über Angriffe der HSV-Hooligans berichte, kann ich auch nicht von „den deutschen Fußballfans“ reden. So kommen wir jedenfalls nicht konstruktiv aus dieser Schleife heraus, dass nach Horst Seehofer (dem früheren CSU-Bundesinnenminister) Migration die „Mutter aller Probleme“ sei.

epd: Ist in diesen schnellen digitalen Zeiten, in denen jeder Aufmerksamkeit will, gute Berichterstattung überhaupt möglich?

Schultz: Die Medien sind oft genauso getrieben von Aktionismus wie die Politik. Durch Framing und Themensetzung werden Stimmungen reproduziert. Es gibt zwar qualitätsvolle Berichterstattung und auch warnende Stimmen, aber die befinden sich nicht im Hauptstrom der Nachrichten. Nicht alle Äußerungen zu berichten würde Mut erfordern. Wenn Spitzenpolitiker etwas sagen, kann man das auch nicht einfach ignorieren.

epd: Was bedeutet der Aktionismus für einen gesunden öffentlichen Diskurs?

Schultz: Wir werden wohl noch länger eine Aufheizung erleben, auch angesichts der Entwicklung in den USA. Fatal ist, dass Populisten medial Erwartungen anheizen und sich auch die bürgerlichen Kräfte davon anstecken lassen.

epd: Was zählen in dieser aufgeheizten Diskurskultur noch Kategorien wie Menschenwürde? Die der Opfer, der Angehörigen, des Täters, anderer Migranten?

Schultz: Politiker ignorieren die Menschenwürde nicht bewusst. Aber die Frage ist, ob sie ihr mit ihren Äußerungen gerecht werden - oder ob sie Menschen Unrecht tun, indem sie sie instrumentalisieren. Indem sie das einzelne Schicksal nutzen, um Schwung zu nehmen für eine größere Politik. Außerdem geht schnell verloren, dass einige der Opfer offenbar auch ausländischer Herkunft waren und es dieses „Wir gegen sie“ nicht gibt.

epd: Welche Art von Äußerungen wäre besser gewesen?

Schultz: Solche, die dieses „Wir gegen sie“ aufbrechen. Die die Gemeinschaft betonen und nicht Gruppen, sondern dass es ein Täter mit einer individuellen Geschichte war - so wie die Opfer, derer würdig gedacht werden muss, eine individuelle Geschichte haben. Hier ist viel Differenzierung nötig. Sogar wenn ein Politiker einen harten Kurs fahren will, sollte er erst mal die Mitmenschlichkeit in den Vordergrund stellen. Da sehe ich ein großes Versagen. (00/0322/29.01.2025)

epd-Gespräch: Christine Ulrich