
Es ist ein ungewohntes Bild: graue Haare und Baseballcaps Seite an Seite, so weit das Auge reicht. In Argentinien führen Rentnerinnen und Rentner die heftigsten Proteste gegen die Kahlschlag-Politik des rechtslibertären Präsidenten Javier Milei an, denen sich nach ein paar Wochen die Fußballfans angeschlossen haben. Jeden Mittwoch versammeln sie sich vor dem Kongressgebäude in der Hauptstadt Buenos Aires, mittlerweile verstärkt durch Gewerkschaften, kleine Linksparteien und Tausende andere Unzufriedene.
Die Regierung reagiert mit Gewalt. Uniformierte gehen mit Tränengas gegen die Demonstrierenden vor, um die Straßen freizuhalten, so jedenfalls die offizielle Begründung. Am 12. März waren die Polizisten besonders brutal: Sie verletzten laut lokalen Medien gut 100 Menschen und nahmen mehr als 150 fest. Der Fotograf Pablo Grillo wurde durch eine Tränengaspatrone lebensgefährlich verletzt. Randalierer, aber Berichten zufolge auch infiltrierte Provokateure, steckten ein Polizeiauto und Müllcontainer in Brand.
Demonstranten von Regierung diskreditiert
Sicherheitsministerin Patricia Bullrich hatte die Stimmung bereits im Vorfeld angeheizt und verteidigte das Vorgehen der Polizisten auch danach. Die Demonstranten hätten einen Staatsstreich versucht, sagte sie. Gewalttätige Ultra-Fanklubs und Bürgermeister der peronistischen Opposition aus dem Vorstadtgürtel hätten die Proteste organisiert. Präsident Milei erklärte: „Wir regieren für die guten Argentinier, nicht für die Verbrecher.“
Zehntausende Anhänger von mindestens 20 Fußballklubs schlossen sich der Kundgebung an. Sie solidarisierten sich mit dem 75 Jahre alten Rentner Carlos Dawlowfki, der durch den mehrfachen Protest im Trikot seines Lieblingsvereins Chacarita Juniors bekannt geworden ist. „Wir haben unser ganzes Leben lang Beiträge bezahlt, jetzt wollen wir in Würde und Frieden leben“, sagt der 75-Jährige. „So darf das nicht weitergehen.“
Viele Maradona-Trikots
Ein Spruch des 2020 verstorbenen Nationalhelden Diego Maradona ist in aller Munde: „Man muss schon ein großer Feigling sein, wenn man die Rentner nicht verteidigt.“ Maradona-Trikots gehören bei jedem neuen Protest dazu. „Ich bin für meine Oma gekommen“, sagt Eva González, 24, im gelb-blauen Boca-Juniors-Fanshirt. „Es ist eine Schande, wie Milei all das auf dem Rücken der Ärmsten austrägt.“
Vor dem Kongressgebäude gingen Mitte März schwer bewaffnete Einheiten der Bundespolizei, der Gendarmerie und der Stadtpolizei auf die Demonstrierenden los. Sie setzten Schlagstöcke, Wasserwerfer, Tränengas und Hartgummikugeln ein. Als die Wasserfontänen und Tränengasschwaden zu viel wurden, setzten sich Tausende in Richtung des zentralen Platzes Plaza de Mayo in Bewegung.
„Alle sollen abhauen“, skandierten sie, ein Gesang aus der stürmischen Jahreswende 2001/2002 während der schwersten Wirtschaftskrise des Landes. Fans von Boca Juniors, River Plate und anderer rivalisierender Fußballklubs zogen einträchtig nebeneinander her. Am Ende der Prachtstraße Avenida de Mayo versperrten Polizisten in Kampfmontur den Weg und stürmten anschließend die Plaza de Mayo. Von Motorrädern feuerten Gummigeschosse auf die panisch fliehenden Menschen, in drei Minuten war der Platz leer.
250 Euro Mindestrente
Doch die Menschen lassen sich davon nicht abhalten. Eine Woche später gingen erneut Zehntausende auf die Straßen, in Buenos Aires und mehreren Provinzhauptstädten. Zusammenstöße gab es diesmal keine.
Die Mindestrente, die fünf Millionen Argentinierinnen und Argentinier beziehen, liegt bei umgerechnet knapp 250 Euro pro Monat. Immer weniger Medikamente werden staatlich bezuschusst. Nach Berechnungen des Wirtschaftswissenschaftlers Alejandro Bercovich geht knapp ein Viertel der 43 Milliarden US-Dollar, die Milei in den ersten 14 Monaten seiner Regierung eingespart hat, auf Kosten der Rentner.
Seit Anfang Februar gab es allein in Buenos Aires sechs Großdemonstrationen gegen die Regierung, am 39. Jahrestag des Militärputsches am 24. März beteiligten sich Hunderttausende. Für den 10. April hat der Gewerkschaftsdachverband CGT zu einem Generalstreik aufgerufen. Mileis Popularität sinkt rapide, liegt aber immer noch bei gut 40 Prozent - die Enttäuschung über die peronistische Vorgängerregierung sitzt tief.