Sechs Wochen Hiebe, Schläge, Erniedrigung
Caritasverband in Mainz erforscht Geschichte seiner Kinderkurheime

Essenszwang, Briefzensur und teilweise auch Schläge prägten bis in die 1970er Jahre hinein den Alltag in den katholischen Kinderkurheimen der Mainzer Caritas. Der Wohlfahrtsverband hat nun eine Studie zu den Zuständen in den Einrichtungen vorgelegt.

Mainz (epd). „Liebe Mutti, hier ist es schön, nur das Wetter nicht“, schrieb der kleine Udo irgendwann nach 1970 in krakeliger Kinderschrift auf eine Postkarte aus dem Schwarzwald an die Familie in Nordrhein-Westfalen. Vom quälenden Heimweh, den rigiden Hausregeln oder erniedrigenden Strafen im katholischen Kinderkurheim Allerheiligen sollte niemand etwas erfahren, daher wurden die Ansichtskarten vor dem Absenden streng zensiert. Und wenn die Kinder irgendetwas Negatives erwähnten, wurden die Schreiben kurzerhand zerrissen. Nichts sollte das Bild von der heilen Welt im Schwarzwald trüben. Jahrzehnte später hat der Caritas-Verband des Bistums Mainz sich intensiv mit den Zuständen in den beiden einst von ihm betriebenen Häusern St. Josef bei Bad Nauheim und in Allerheiligen befasst.

„Die meisten Kinder haben in den beiden Einrichtungen keine erholsame Zeit verbracht, im Gegenteil“, sagte Diözesancaritasdirektorin Nicola Adick bei der Vorstellung des Untersuchungsberichts. Im Auftrag der Caritas hatte der Historiker Holger Köhn in den Akten des kirchlichen Wohlfahrtsverbandes recherchiert und Gespräche mit ehemaligen Kurkindern geführt. Viele Gesprächspartner zeichneten ein düsteres Bild ihres Aufenthalts. „Sechs Wochen Hiebe, Schläge, Erniedrigung, unterlassene Hilfe“, zitiert Köhn eine Zeitzeugin, die 1963 nach Allerheiligen kam. „Ich war so verzweifelt, dass ich mich umbringen wollte.“

In den beiden katholischen Heimen wurden die Kinder gezwungen, alle Mahlzeiten aufzuessen. Stundenlang mussten sie vor ihren Tellern sitzenbleiben, bis die leer waren. Nachts wurden die Mädchen und Jungen eingeschlossen und durften auch nicht mehr auf die Toilette gehen. Bei Regelverstößen riskierten sie Ohrfeigen, oder sie mussten zur Strafe stundenlang auf einem Stuhl sitzen. „Die Kinder selbst haben lange darüber geschwiegen“, sagt Köhn. In den Akten der Caritas gebe es zwar einige Kritik seitens der „Entsendestellen“ an der medizinischen Betreuung in den Einrichtungen und im Fall von Bad Nauheim auch an den Räumlichkeiten, aber praktisch gar keine Hinweise auf Eltern-Beschwerden über eine demütigende Behandlung der Kinder. „Das wurde in der Tat nicht infragegestellt“, urteilt der Historiker.

Erst seit vergleichsweise kurzer Zeit ist das Schicksal der sogenannten Verschickungskinder ein Thema der zeitgeschichtlichen Forschung. Dabei waren in den Nachkriegsjahren jährlich Abertausende Kinder aus der ganzen Bundesrepublik zu mehrwöchigen Aufenthalten in Kinder-Kureinrichtungen geschickt worden, von denen viele in kirchlicher Trägerschaft waren. Manche sollten dort ihre Krankheiten auskurieren, andere einfach nur zunehmen, weil sie vermeintlich zu dünn waren.

Auch Irmtraud Maurer, die heute in der Nähe von Bad Kreuznach lebt, war im Alter von neun Jahren wegen angeblichen Untergewichts von ihrem Kinderarzt zur Kur nach Allerheiligen geschickt worden. Tatsächlich sei sie aber noch dünner wieder nach Hause zurückgekehrt. Viele Erinnerungen seien inzwischen verloren gegangen, aber einem Mädchen, das damals für sie ungenießbare Mahlzeiten aufgegessen habe, sei sie immer noch dankbar. „Sülze kann ich nicht ausstehen“, berichtet sie. „Und das gab es da.“

Übergriffe und brachiale Erziehungsmethoden seien in den meisten Einrichtungen die Regel gewesen, sagt Historiker Köhn. Die Zustände in den Häusern der Caritas Mainz hätten denen geglichen, die auch anderenorts vorzufinden waren. Seine Recherchen förderten auch Belege für sexuelle Grenzverletzungen zutage. So berichteten mehrere Kurkinder über befremdliche Sportübungen, bei denen die Mädchen ganz knappe Turnanzüge tragen mussten. Im Rahmen der Aufarbeitungsstudie über sexuelle Gewalt im Bistum Mainz war zuvor bereits der Fall eines Betroffenen bekannt geworden, der angegeben hatte, als Junge in Allerheiligen durch einen Hausgeistlichen vergewaltigt worden zu sein.

Weitere Belege für Sexualstraftaten fanden sich im Rahmen der aktuellen Spurensuche nicht. Aufgrund schwindender Nachfrage wurde das Heim in Bad Nauheim bereits 1963 und die Einrichtung in Allerheiligen 1978 geschlossen.

Informationen der Caritas zum Thema: http://u.epd.de/3277