Gericht muss Gutachten über Sturzrisiken einer Patientin beachten
s:59:"Schild am Eingang des Bundesgerichtshofs (BGH) in Karlsruhe";
Schild am Eingang des Bundesgerichtshofs (BGH) in Karlsruhe

Krankenhäuser und Pflegeheime müssen bei demenzkranken Patienten und Bewohnern mit einem erhöhten Sturzrisiko rechnen. Geht es nach einem Sturz um die Frage, wer haftet, darf ein Gericht ein Sachverständigengutachten über die Ursachen nicht übergehen, entschied der Bundesgerichtshof.

Karlsruhe (epd). Krankenhäuser und Pflegeheime müssen Sturzrisiken von alten und demenzkranken Menschen immer im Blick haben. Kommt es dann doch zu einem Rechtsstreit über die Ursachen und die Haftung nach einem Sturz, dürfen Gerichte sich nicht über fachliche Aussagen eines bestellten Gutachters einfach hinwegsetzen und ohne eigene Qualifikation selbst Feststellungen dazu treffen, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in einem am 29. August veröffentlichten Beschluss. Andernfalls werde der Anspruch der Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt, befanden die Karlsruher Richter.

Hintergrund des Rechtsstreits war der nächtliche Sturz einer 88-jährigen demenzkranken Frau am 16. Februar 2016 im Stationsflur eines Krankenhauses. Dass die Frau eine „Weglauftendenz“ hatte, war dokumentiert. Infolge des Sturzes erlitt sie einen komplexen Mehrfachbruch eines Oberarmes. Drei Wochen nach dem Sturz starb die Frau in der Kurzzeitpflege. Ihre Tochter machte als Erbin Schmerzensgeld und eine Entschädigung geltend. Das Klinikpersonal hätte das Sturzrisiko sehen und geeignete vorbeugende Maßnahmen ergreifen müssen, so ihre Argumentation.

Landgericht wies Klage ohne Beweisaufnahme ab

Das Landgericht Saarbrücken holte ein pflegewissenschaftliches Gutachten ein. Danach war die 88-Jährige wegen stark schwankender Blutzuckerwerte, die zu Desorientiertheit und Gleichgewichtsschwankungen führen, sehr stark sturzgefährdet. Zusätzlich hat laut Gutachten die Frau ein Beruhigungsmittel erhalten, das ebenfalls Gang- und Standunsicherheiten verursachen kann. Eine Überwachung per Videokamera oder der Einsatz einer Sensormatte, die das Weglaufen einer Patientin anzeigt, hätte das Pflegepersonal warnen können, kam aber nicht zum Einsatz.

Das Landgericht stellte dennoch fest, dass eine Sturzproblematik nicht bestanden habe. Denn die Frau habe bei der Aufnahme in die Klinik keinen unsicheren Gang oder Schwindel gezeigt. Das Oberlandesgericht (OLG) Saarbrücken wies die Klage ohne Beweisaufnahme ab und ließ eine Revision zum BGH nicht zu.

Der BGH gab der eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin jedoch statt und stellte fest, dass der Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt wurde. Zwar könne ein Gericht im Rahmen der freien Beweiswürdigung zu einer eigenen Überzeugung kommen. Ohne vorhandene Qualifikation dürfe es sich aber nicht über die fachkundigen Feststellungen eines Gutachters hinwegsetzen und anstelle dessen eigene Aussagen treffen. Zweifele ein Gericht ein Gutachten an, könne es allenfalls einen weiteren Sachverständigen beauftragen, betonte der BGH. Das OLG müsse den Fall daher noch einmal prüfen.

Immer hohe Sturzgefahr bei verwirrten Patienten

Bereits am 14. November 2023 stellte der BGH klar, dass Krankenhäuser bei verwirrten und desorientierten Patienten immer mit einer besonderen Sturzgefahr rechnen müssen. Werde ein sehr hohes Sturzrisiko festgestellt, müsse die Klinik „zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit“ der Patienten die „notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen“ treffen.

Im konkreten Fall wurde bei einer 66-jährigen Frau festgestellt, dass sie nach einer Operation verwirrt reagierte. Ein extrem hohes Sturzrisiko wurde vermerkt. Als sie dann stürzte, ohne sich weiter zu verletzen, unternahm das Pflegepersonal nichts. Bei einem weiteren Sturz verletzte sich die Frau so schwer, dass erst der Unterschenkel und dann bei einem erneuten Sturz der Oberschenkel amputiert werden musste.

Die Erben der inzwischen verstorbenen Frau verlangten Schmerzensgeld und eine Entschädigung. Das Oberlandesgericht (OLG) Köln wies die Klage ab. Zum Zeitpunkt des ersten Sturzes habe kein besonders hohes Sturzrisiko mehr bestanden. Auch hier stellte der BGH fest, dass das OLG den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör verletzt habe. Es sei ohne eigene Sachkunde von einem fehlenden erhöhten Sturzrisiko ausgegangen. Hierzu hätte es ein Gutachten einholen müssen.

Kliniken nicht unbedingt haftbar nach Stürzen

Doch nicht bei jedem Sturz muss eine Klinik oder ein Pflegeheim sofort haften. So muss nach einem Urteil des OLG Karlsruhe vom 18. September 2019 das Pflegepersonal eine demenzkranke Heimbewohnerin nicht immer lückenlos überwachen. Es sei „pflegefachlich nachvollziehbar“, dass Pflegekräfte eine Bewohnerin alleine auf die Toilette gehen lassen, um ihre Intimsphäre zu achten. Eine lückenlose Überwachung sei nur dann angebracht, wenn es Anzeichen eines Sturzes gerade auf der Toilette gebe.

Das OLG Hamm urteilte am 2. Dezember 2014, dass eine Haftung einer Krankenhauspatientin erst recht nicht infrage kommt, wenn diese die angebotene Hilfe für ihren Toilettengang ablehnt. Nehme sie diese nicht in Anspruch, könne dies nicht zulasten des Krankenhauses gehen.

Az.: VI ZR 41/22 (BGH, rechtliches Gehör)

VI ZR 244/21 (BGH, Sturzrisiko Demenz)

Az.: 7 U 21/18 (OLG Karlsruhe)

Az.: 26 U 13/14 (OLG Hamm)

Frank Leth