Zwangsbehandlung außerhalb von Kliniken möglich
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Bundesverfassungsgericht Karlsruhe

Gesetzliche Regelungen, die ärztliche Zwangsbehandlungen ausschließlich in einer Klinik vorsehen, sind teilweise verfassungswidrig, urteilte das Bundesverfassungsgericht.

Karlsruhe (epd). Die ärztliche Zwangsbehandlung eines unter Betreuung stehenden kranken oder behinderten Menschen muss ausnahmsweise auch in dessen Wohnumfeld möglich sein. Die gesetzliche Regelung, wonach eine medizinisch notwendige Zwangsbehandlung zwingend in einer Klinik erfolgen muss, verstößt gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit und ist teilweise verfassungswidrig, urteilte am 26. November das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Der Gesetzgeber muss nun bis zum 31. Dezember 2026 eine verfassungsgemäße Neuregelung schaffen. Bis dahin gilt das bisherige Recht weiter.

Entscheidungen zur Gesundheit grundsätzlich frei

Die Karlsruher Richter hatten sich in der Vergangenheit bereits mehrfach zu den Voraussetzungen einer ärztlichen Zwangsbehandlung geäußert. So hatte das Bundesverfassungsgericht am 26. Juli 2016 klargestellt, dass grundsätzlich jeder Mensch über seine Gesundheit nach eigenem Gutdünken entscheiden dürfe. Allerdings greife für Personen, die „selbst zu ihrem Schutz nicht in der Lage sind, eine staatliche Schutzpflicht“. Bei solchen hilfsbedürftigen und nicht einsichtsfähigen Patienten müsse eine medizinische Behandlung auch gegen ihren geäußerten Willen möglich sein.

Der Gesetzgeber hatte schließlich bestimmt, dass „die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus (…) durchgeführt wird“. Damit sollte sichergestellt werden, dass die Notwendigkeit des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit bei einwilligungsunfähigen Patienten auch tatsächlich gegeben ist. In Krankenhäusern könnten multiprofessionelle Teams dies besser überprüfen.

Mit Beschluss vom 2. November 2021 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Zwangsmaßnahmen auf das für den Betreuten notwendige Maß zu beschränken sind. Offengelassen hatten die Karlsruher, ob ärztliche Zwangsbehandlungen weiterhin allein den Kliniken vorbehalten bleiben müssen. Betreuerinnen und Betreuer könnten künftig von den Fachgerichten klären lassen, inwieweit eine entsprechende Zwangsmaßnahme auch in einem Heim möglich ist, so das Gericht. Auch sei nicht ganz klar, was überhaupt als Zwangsbehandlung anzusehen sei. Gehört beispielsweise die heimliche Medikamentengabe, etwa mit dem Essen, dazu?

Konkrete Anforderungen an Zwangsbehandlungen

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit Beschluss vom 12. Juni 2024 die Anforderungen an eine ärztliche Zwangsbehandlung konkretisiert. Danach müsse der behandelnde Arzt zunächst „ohne Ausübung von Druck“ und „mit dem gebotenen Zeitaufwand“ versuchen, das Einverständnis der betreuten Person in die Maßnahme zu erlangen. Erst wenn dies dokumentiert sei, könne die medizinisch notwendige Zwangsbehandlung beim Betreuungsgericht beantragt und genehmigt werden.

In dem aktuell vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall ging es erneut um die Frage, ob der Gesetzgeber die ärztliche Zwangsbehandlung ausnahmslos in Kliniken vorsehen durfte. Geklagt hatte eine von ihrem Betreuer vertretene Frau, die an einer paranoiden Schizophrenie erkrankt ist. Die in einer geschlossenen Wohnform im Raum Lippstadt untergebrachte Frau hatte sich in der Vergangenheit mehrfach geweigert, die erforderliche medikamentöse Behandlung im Krankenhaus durchzuführen. Teilweise musste sie für die Medikamentengabe fixiert werden.

Der Betreuer hielt zwar ebenso wie die behandelnden Ärzte die medikamentöse Zwangsbehandlung für erforderlich. Die Zwangsmaßnahme müsse aber auch im vertrauten Wohnumfeld möglich sein. Durch die Verlegung in ein Krankenhaus drohe der Frau eine Traumatisierung und damit ein unverhältnismäßiger Eingriff in ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit. Nach der erfolgten Zwangsmaßnahme wollte der Betreuer feststellen lassen, dass diese zu Unrecht im Krankenhaus erfolgt sei. Dies bestätigte auch der BGH mit Beschluss vom 8. November 2023 und legte das Verfahren dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor.

Ausnahmslose Behandlung in Kliniken unverhältnismäßig

Die Verfassungsrichter urteilten, der Gesetzgeber habe zwar durchaus davon ausgehen dürfen, dass die Erforderlichkeit einer Zwangsbehandlung in einer Klinik besser überprüft werden könne, zumal dort multiprofessionelle Teams zum Einsatz kämen. Es gehöre zur Schutzpflicht des Staates gegenüber einwilligungsunfähigen Menschen, dass eine Zwangsbehandlung nur als letztes Mittel zulässig sei.

Die ausnahmslose Zwangsbehandlung in einer Klinik sei jedoch unverhältnismäßig, wenn sie auch in einer Wohneinrichtung durchgeführt werden könne und dort der Krankenhausstandard eingehalten werde. Wenn durch die Zwangsmaßnahme im vertrauten Wohnumfeld eine Traumatisierung des Betroffenen eher vermieden werden könne, müsse die Zwangsbehandlung dort möglich sein. Andernfalls könnte das Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzt werden, so die Verfassungsrichter.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte befürchtet indes eine Ausweitung von Zwangsbehandlungen als Folge des Karlsruher Urteils. Dessen Direktorin Beate Rudolf erklärte, es könne das Vertrauen von Patienten zu ihren Betreuern und Ärzten stören, wenn Zwangsbehandlungen nun auch in vertrauten Umgebungen möglich seien. „Die Tatsache, dass Zwangsmaßnahmen in Einzelfällen auch ohne Einweisung in ein Krankenhaus rechtlich möglich werden sollen, darf nicht dazu führen, dass sie häufiger angewendet werden - etwa bei Personal- oder Zeitknappheit“, sagte sie. Bei der Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils müsse der Bundestag die Vorgaben für die Anwendung von Zwangsmaßnahmen streng definieren.

Az.: 1 BvL 1/24 (Bundesverfassungsgericht zur Zwangsbehandlung im Wohnumfeld

Az.: 1 BvL 8/15 (Bundesverfassungsgericht zur staatlichen Schutzpflicht)

Az.: 1 BvR 1575/18 (Bundesverfassungsgericht zum Klinikvorbehalt)

Az.: XII ZB 572/23 (Bundesgerichtshof zu Überzeugungsversuchen)

Az.: XII ZB 459/22 (Bundesgerichtshof zur Verfassungsgerichtsvorlage)

Frank Leth