Volle Erwerbsminderung hängt von Einsetzbarkeit am Arbeitsmarkt ab
s:48:"Justitia auf dem Römerberg in Frankfurt am Main";
Justitia auf dem Römerberg in Frankfurt am Main

Auch wer täglich sechs Stunden arbeiten kann, hat unter Umständen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente. Dies ist möglich, wenn dem Versicherten wegen Beeinträchtigungen der Arbeitsmarkt verschlossen ist, urteilte das Landessozialgericht Stuttgart.

Stuttgart (epd). Für den Anspruch auf eine volle Erwerbsminderungsrente müssen Rentenversicherungsträger die Einsetzbarkeit von behinderten oder kranken Menschen auf dem Arbeitsmarkt prüfen. Ist der Betroffene fähig, mindestens sechs Stunden täglich leichte Arbeiten zu verrichten, muss er zugleich in der Lage sein, „unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes ein Erwerbseinkommen zu erzielen“, entschied das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg in Stuttgart in einem am 19. März veröffentlichten Urteil. Ist er das nicht, könne dies ausnahmsweise eine volle Erwerbsminderung begründen.

Der 1963 geborene Kläger arbeitete bis 2014 als Zweiradmechaniker. Danach kündigte er das Arbeitsverhältnis, um seine Eltern zu pflegen. Für seinen Lebensunterhalt erhielt er das damalige Arbeitslosengeld II. Ab dem Jahr 2020 verschlechterte sich die gesundheitliche Situation des Mannes. Er erlitt einen Schlaganfall und kann seitdem seine rechte Hand nicht mehr vollständig einsetzen. Wegen einer Herzerkrankung musste er sich einer Bypassoperation unterziehen. Außerdem erhielt er eine neue Herzklappe. Am 6. Dezember 2021 beantragte er eine Rente wegen Erwerbsminderung. Seit der Herz-OP sei er nicht mehr belastbar.

Leichte körperliche Arbeit war noch möglich

Die behandelnden Ärzte hatten zwar angegeben, dass der Kläger als Mechaniker nicht mehr leistungsfähig sei. Er könne aber „körperlich leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt“ sechs Stunden täglich bei einer Fünf-Tage-Woche ausüben. Nach einem Reha-Klink-Aufenthalt wurde festgestellt, dass aus rein kardiologischer Sicht ein „vollschichtiges Leistungsvermögen“ für leichte körperliche Arbeiten bestehe. Nachtschichten oder häufige Wechselschichten könne der Mann nicht mehr leisten.

Der Rentenversicherungsträger lehnte den Antrag auf eine Erwerbsminderungsrente ab. Dagegen erhob der Versicherte Klage. Die vom LSG beauftragte Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass der Kläger noch leichte Tätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt „ohne psychische Belastungen“ in einem zeitlichen Umfang von sechs Stunden ausüben könne. Die Feingeschicklichkeit der rechten Hand sei noch vorhanden. Wegen der durch den Schlaganfall bedingten Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit, der depressiven Stimmungslage und einer Antriebsstörung kämen jedoch nur wenige Berufsfelder in Betracht, etwa als Verpacker von Kleinteilen oder als Pförtner.

Das LSG urteilte, dass der Kläger voll erwerbsgemindert sei und Anspruch auf eine volle Erwerbsminderungsrente habe. Nach den gesetzlichen Bestimmungen sei zwar generell von keiner Erwerbsminderung auszugehen, wenn der Versicherte „unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann“, so das Gericht. Nach einem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Dezember 2019 kann jedoch ausnahmsweise „selbst bei einer mindestens sechsstündigen Erwerbsfähigkeit eine volle Erwerbsminderung vorliegen, wenn der Arbeitsmarkt wegen besonderer spezifischer Leistungseinschränkungen als verschlossen anzusehen ist“. Der Versicherte müsse nicht nur unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts eine Tätigkeit verrichten können. Er müsse auch in der Lage sein, ein Erwerbseinkommen zu erzielen.

Grundsätze auf aktuellen Fall übertragen

Das BSG hatte damals geurteilt, dass auch mehrere gewöhnliche Leistungseinschränkungen zu einer vollen Erwerbsminderungsrente führen können, wenn sie sich insgesamt als ungewöhnlich auswirken. Auf die Anzahl der Einschränkungen komme es nicht an. Vor dem BSG-Urteil war Voraussetzung für eine volle Erwerbsminderung, dass eine schwere spezifische Leistungsbehinderung oder mindestens zwei in der Summe gleichwertige ungewöhnliche Einschränkungen vorliegen, etwa an Händen oder eine erhebliche Sehstörung.

Diese Grundsätze hat das LSG nun auf den aktuellen Fall übertragen. Aufgrund der Leistungseinschränkungen, insbesondere der Beeinträchtigung der psychischen Leistungsfähigkeit, könne der Kläger Arbeiten nur verlangsamt ausführen. Bei einer derart schweren spezifischen Leistungseinschränkung müsse die Rentenversicherung konkret benennen, welche Tätigkeiten der Versicherte ausüben könne. Die Verweisung auf die Tätigkeit eines Verpackers von Kleinteilen komme angesichts der Einschränkungen der rechten Hand nicht in Betracht, zumal diese Tätigkeiten oft im Akkord ausgeübt würden. Dies sei für den Kläger nicht leistbar. Die Tätigkeit als Pförtner scheide wegen der Nachtdienste auch aus.

Az.: L 2 R 1695/23 (Landessozialgericht Stuttgart)

Az.: B 13 R 7/18 R (Bundessozialgericht)

Frank Leth