![s:29:"Bundessozialgericht in Kassel";](/sites/default/files/schwerpunktartikel/S250214115L-1.jpg)
Alleinstehende Asylbewerber in Sammelunterkünften wirtschaften nicht mit anderen Bewohnern gemeinsam. Diese generelle Annahme des Gesetzgebers kann die Kürzung von Asylbewerberleistungen nicht rechtfertigen, so das Bundessozialgericht, das das Verfahren dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt hat.
Kassel (epd). Alleinstehende Asylbewerber in Sammelunterkünften erhalten nach Auffassung des Bundessozialgerichts (BSG) von Anfang an in verfassungswidriger Weise zu geringe Asylbewerbergrundleistungen. Denn die vom Gesetzgeber eingeführte zehnprozentige Kürzung der Sozialleistungen ist unzureichend begründet worden, entschieden die Kasseler Richter in einem am 13. Februar veröffentlichten Beschluss. Sie setzten das Verfahren aus - und legten es dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor.
Konkret ging es um einen alleinstehenden Asylbewerber aus Guinea. Vom 11. April 2019 bis 31. August 2020 war er in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht. An Sozialleistungen erhielt er die sogenannten Asylbewerbergrundleistungen, die um rund 22 Prozent niedriger liegen als die Sozialhilfe oder das Bürgergeld.
Berechnung der Hilfen nach niedrigerer Bedarfsstufe
Weil der alleinstehende Flüchtling in einer Gemeinschaftsunterkunft lebte, wurden seine Asylbewerbergrundleistungen nach der niedrigeren Bedarfsstufe 2 für Ehepaare berechnet, monatlich 316 Euro. Der Gesetzgeber hatte die entsprechende Regelung damit begründet, dass auch Alleinstehende wegen des Zusammenlebens mit anderen Bewohnern „gemeinsam wirtschaften“ und Einsparungen erzielen könnten.
Das Sozialgericht Gelsenkirchen verpflichtete die Stadt Gelsenkirchen als Sozialhilfeträger, dem Kläger Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1 für Alleinstehende zu gewähren, damals insgesamt 351 Euro monatlich. Ob der Kläger mit anderen Personen gemeinsam wirtschafte und spare, sei nicht nachgewiesen. Das Gericht ließ die Sprungrevision zum BSG zu.
Die obersten Sozialrichter stellten in ihrem Beschluss nun fest, dass das Gesetz zwingend für alleinstehende in einer Gemeinschaftsunterkunft lebende Empfänger von Asylbewerbergrundleistungen die Bedarfsstufe 2 vorsehe. Diese gesetzliche Regelung hält das BSG jedoch für verfassungswidrig. Denn für die Annahme, dass alleinstehende Asylbewerber in einer Gemeinschaftsunterkunft mit anderen Bewohnern gemeinsam wirtschaften und dabei regelmäßig Einsparungen erzielen, gebe es keine Anhaltspunkte.
Absenkung „nicht tragfähig belegt“
Der Gesetzgeber dürfe „Bedarfe aber nicht pauschal nur auf der Grundlage der Vermutung absenken, dass Bedarfe bereits anderweitig gedeckt sind und Leistungen daher nicht zur Existenzsicherung benötigt werden, ohne dass dies für die konkreten Verhältnisse hinreichend tragfähig belegt wäre“, heißt es in dem Beschluss.
Das BSG verwies auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 2022. Die Verfassungsrichter hatten damals eine vergleichbare Regelung für alleinstehende erwachsene Asylbewerber in Sammelunterkünften für verfassungswidrig erklärt, die keine Asylbewerbergrundleistungen, sondern sogenannte Analogleistungen erhalten haben. Analogleistungen entsprechen in etwa der Sozialhilfe oder dem Bürgergeld.
Sonderbedarfsstufe gilt seit Februar 2024
Damals konnten Asylbewerber diese Gelder beanspruchen, wenn sie sich mindestens 18 Monate in Deutschland aufgehalten haben. Seit dem 27. Februar 2024 ist eine 36-monatige Aufenthaltsdauer Voraussetzung. Für alleinstehende Flüchtlinge in Sammelunterkünften wurde eine eigene, um zehn Prozent niedrigere „Sonderbedarfsstufe“ geschaffen. Weil die Flüchtlinge mit den anderen Bewohnern gemeinsam wirtschaften und sparen könnten, sei die Kürzung gerechtfertigt, so der Gesetzgeber.
Die Verfassungsrichter entschieden jedoch, dass die „Sonderbedarfsstufe“ das Existenzminimum nicht gewährleisten könne und daher verfassungswidrig sei. Dass die angenommenen Einsparungen den Kürzungen entsprechen, sei „nicht erkennbar“.
Gesetzgeber hat keine eigenen Erhebungen gemacht
Diese Grundsätze seien auf die abgesenkten Asylbewerbergrundleistungen übertragbar, erklärte das BSG. Der Gesetzgeber habe zu den tatsächlichen Bedarfen keine Erhebungen in Sammelunterkünften angestellt. Dass Alleinstehende mit anderen Bewohnern der Gemeinschaftsunterkunft „aus einem Topf wirtschaften“, könne nicht unterstellt werden. Trotz einer viermaligen Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes seit der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung habe der Gesetzgeber keine Begründung für die abgesenkten Sozialleistungen für alleinstehende Grundleistungsempfänger geliefert. Ob die Höhe der Leistungen evident unzureichend ist, konnte das BSG nicht feststellen.
Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen ging in einem Beschluss vom 13. Juli 2021 aber weiter. Die Celler Richter hatten ihr Verfahren ebenfalls dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt und dabei Höhe der Asylbewerbergrundleistungen und auch deren Begründung für verfassungswidrig angesehen. Das Bundesverfassungsgericht hat über dieses Verfahren bislang noch nicht entschieden.
Az.: B 8 AY 1/22 R (Bundessozialgericht)
Az.: 1 BvL 3/21 (Bundesverfassungsgericht)
Az.: L 8 AY 21/19 (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen)