Arbeitgeber müssen vor der Kündigung eines behinderten Mitarbeiters auch innerhalb der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses ein Präventionsverfahren durchführen. Denn es gibt keine gesetzliche Frist, ab wann das Verfahren stattzufinden hat, urteilte das Landesarbeitsgericht Köln.
Köln (epd). Unternehmen, die schwerbehinderten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern kündigen wollen, müssen ihnen die Möglichkeit zu einem Präventionsverfahren bieten, das den Job möglichst erhalten soll. Kündigt ein Arbeitgeber einem schwerbehinderten Mitarbeiter auch während der sogenannten Wartezeit in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses und unterlässt das Präventionsverfahren, dann stellt das ein Indiz für eine verbotene Benachteiligung wegen der Behinderung dar, entschied das Landesarbeitsgericht (LAG) Köln in einem kürzlich veröffentlichten Urteil vom 12. September. Weil diese Entscheidung von der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) abweicht, wurde die Revision zugelassen. Wie das BAG dem epd auf Nachfrage am 11. November mitteilte, wurde diese auch mittlerweile unter dem Az.: 2 AZR 271/24 eingelegt.
Geklagt hatte ein heute 40-jähriger schwerbehinderter Arbeitnehmer mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 80. Er war seit Januar 2023 bei einer Kommune als „Beschäftigter im Bauhof“ tätig. Der Mann wurde in verschiedenen Kolonnen des Bauhofs eingesetzt, wie etwa der Grünflächenpflege oder im Bereich Verkehr und Service. Vorgesetzte und Kollegen bewerteten seine Arbeit als sehr schlecht. Der Mitarbeiter halte sich nicht an Arbeitsweisungen, gefährde sich und andere, indem er Maschinen immer wieder falsch bediene, und sei nicht lernfähig. Eine Kolonne weigerte sich gar, mit dem Mann zusammenzuarbeiten.
Kündigung als Diskriminierung eingestuft
Ab Ende Mai 2023 war er arbeitsunfähig erkrankt. Am 22. Juni 2023 und damit innerhalb der sechsmonatigen Wartezeit, bis das Kündigungsschutzgesetz greift, kündigte der Arbeitgeber dem Mann das Arbeitsverhältnis zum 31. Juli 2023.
Der Kläger fühlte sich wegen seiner Behinderung diskriminiert. Der Arbeitgeber habe die Durchführung des gesetzlichen Präventionsverfahrens unterlassen. Gemeinsam mit der Schwerbehindertenvertretung und dem Integrationsamt soll ein Arbeitgeber dabei klären, ob Fehl- oder Minderleistungen des behinderten Beschäftigten durch technische Hilfen vermieden oder durch finanzielle Hilfen der Sozialbehörden ausgeglichen werden können.
Der Arbeitgeber berief sich jedoch auf ein Urteil des BAG vom 21. April 2016. Danach müsse er in den ersten sechs Monaten kein Präventionsverfahren anbieten. Das sei erst nach dem Ende der Wartezeit und mit Beginn des gesetzlichen Kündigungsschutzes erforderlich, so die Argumentation.
Arbeitsgericht untersagte Kündigung
Das Arbeitsgericht Köln hielt diese Rechtsprechung mit Urteil vom 20. Dezember 2023 für überholt und erklärte die Kündigung für unwirksam. Denn der Arbeitgeber sei - entgegen bisheriger Rechtsprechung des BAG - nach EU-Recht verpflichtet, auch während der sechsmonatigen Wartezeit ein Präventionsverfahren zu organisieren. Weil das unterblieb, sei der Kläger mit der Kündigung wegen seiner Behinderung diskriminiert worden.
So habe der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 10. Februar 2022 geurteilt, dass Arbeitgeber frühzeitig vor Ausspruch der Kündigung eines schwerbehinderten Mitarbeiters „wirksame und praktikable Maßnahmen ergreifen müssen, um das Arbeitsverhältnis erhalten zu können“. Das kann laut EuGH etwa eine behinderungsgerechte Umgestaltung des Arbeitsplatzes oder eine Versetzung auf eine andere Stelle sein.
Das LAG gab jedoch im Ergebnis dem Arbeitgeber recht. Allerdings stimmten die Kölner Richter der Auffassung des Arbeitsgerichts zu, dass bei der Kündigung eines schwerbehinderten Mitarbeiters innerhalb der sechsmonatigen Wartezeit ein Präventionsverfahren durchzuführen sei. Im maßgeblichen Kapitel 3 des Sozialgesetzbuches IX gebe es keine zeitliche Begrenzung, ab wann das Präventionsverfahren für den Arbeitgeber verpflichtend sei. Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung sei vielmehr, das bestehende Arbeitsverhältnis möglichst aufrechtzuerhalten.
„Nur Indiz für verbotene Diskriminierung“
Dass kein Präventionsverfahren stattgefunden habe, stelle noch keine unzulässige Benachteiligung wegen der Behinderung dar. Vielmehr sei das nur ein Indiz für eine verbotene Diskriminierung behinderter Mitarbeiter.
Dieses Indiz habe der Arbeitgeber jedoch entkräftet, so das LAG. Denn der Kläger sei nicht ausdrücklich wegen seiner Behinderung gekündigt worden. Dem Arbeitgeber seien die Hintergründe der Behinderung - wie eine frühkindliche Hirnfunktionsstörung - gar nicht bekannt gewesen. Die Kündigung sei erfolgt, weil der Kläger die Arbeitssicherheit nicht eingehalten habe, nicht weisungstreu gewesen sei und sich fortwährend unkollegial verhalten habe. Ein Beschäftigter im Bauhof sollte nach Einarbeitung auch mit Maschinen umgehen können, ohne sich selbst oder andere zu gefährden. Das gelte für nicht behinderte als auch behinderte Menschen gleichermaßen, befand das Gericht.
Az.: 6 Sla 76/24 (Landesarbeitsgericht Köln)
Az.: 8 AZR 402/14 (Bundesarbeitsgericht)
Az.: 18 Ca 3954/23 (Arbeitsgericht Köln)
Az.: C-485/20 (Europäischer Gerichtshof)