Kein pauschal barrierefreier Zugang für Blinde zu Verfahrensakten
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Sehbehinderte stoßen im Alltag oft auf Barrieren.

Blinde und sehbehinderte Menschen können in einem Gerichtsverfahren nicht pauschal die Übertragung sämtlicher Verfahrensakten auf Audio-CDs verlangen. Zumindest bei einem einfachen Rechtsstreit kann der Anwalt diese vorlesen und erläutern, entschied das Landessozialgericht München.

München (epd). Sehbehinderte und blinde Menschen können nicht pauschal die Übertragung sämtlicher Unterlagen eines Gerichtsverfahrens auf Audio-CDs verlangen. Ein solcher barrierefreier Zugang zu den Verfahrensakten könne verweigert werden, wenn der Streitstoff übersichtlich ist und der Sehbehinderte sich die Akten von seinem Rechtsanwalt vorlesen lassen kann, entschied das Bayerische Landessozialgericht (LSG) in München in einem kürzlich veröffentlichten Beschluss vom 9. Januar 2025. Dieser von mehreren Bundesgerichten aufgestellte Grundsatz zum barrierefreien Zugang zu Gerichtsverfahren gelte auch nach einer Neufassung des Gerichtsverfassungsgesetzes aus dem Jahr 2014.

Das Gesetz sieht vor, dass blinde oder sehbehinderte Personen zum einen Schriftsätze und andere Dokumente in einer für sie wahrnehmbaren Form bei Gericht einreichen können. Zum anderen können sie auch verlangen, dass die Unterlagen eines gerichtlichen Verfahrens barrierefrei zugänglich gemacht werden. Die weitergehende gesetzliche Formulierung „soweit dies zur Wahrnehmung ihrer Rechte im Verfahren erforderlich ist“, wurde zum 1. Juli 2014 gestrichen.

Eilverfahren für persönliches Budget

Hintergrund des aktuellen Verfahrens war ein Streit um den Anspruch auf ein persönliches Budget für behinderte Menschen. Die Beschwerdeführerin wollte dieses im Eilverfahren gerichtlich durchsetzen. Sie legte ein ärztliches Attest vor, wonach sie infolge einer Hornhauterkrankung faktisch blind sei.

Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren beantragte die anwaltlich vertretene Frau, dass ihr sämtliche Verfahrensdokumente der ersten und zweiten Instanz auf Audio-CDs übertragen und ihr damit barrierefrei zur Verfügung gestellt werden. So könne sie diese selbst erfassen und zur Kenntnis nehmen. Mit der Streichung der Formulierung im Gerichtsverfassungsgesetz sei der Anspruch auf einen barrierefreien Zugang weiter erleichtert worden.

Doch das LSG wies die Frau ab. Zwar sei im Gesetz für den Anspruch auf barrierefreie Zugänglichmachung von Schriftsätzen und Dokumenten die weitergehende Formulierung der „Erforderlichkeit“ für das Verfahren gestrichen worden. Dies bedeute aber nicht, dass sehbehinderte Menschen nun pauschal und voraussetzungslos Verfahrensdokumente auf Audio-CDs verlangen können. Im vorliegenden Fall handele es sich um einen übersichtlichen Rechtsstreit, so dass der Anwalt der Beschwerdeführerin den Streitstoff problemlos erläutern und vorlesen könne. Auf Audio-CDs übertragende Verfahrensdokumente seien nicht erforderlich. Dies gelte erst recht in Eilverfahren, da die Erstellung aller Verfahrensdokumente in Audioform sehr zeitaufwendig sei und der Eilbedürftigkeit nicht gerecht werde, so die Münchener Richter.

Fürsorgepflicht des Gerichts

Die von den obersten Bundesgerichten aufgestellten Grundsätze zum barrierefreien Zugang zu Gerichtsverfahren seien auch nach der Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes noch gültig. So verwies das LSG auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2014, wonach sehbehinderte Menschen zwar Prozessunterlagen in Blindenschrift einfordern können. Sie könnten sich dabei auf das im Grundgesetz verankerte Benachteiligungsverbot berufen. Menschen mit Behinderung müssten so gestellt werden, „dass ihnen gleichberechtigte Teilhabe wie Menschen ohne Behinderung ermöglicht wird“.

Ein Anspruch auf Übermittlung von Prozessunterlagen in Blindenschrift bestehe jedoch nicht, wenn der Rechtsstreit nicht besonders kompliziert sei und der Anwalt die Akten gleichwertig vermitteln könne. Gebe es jedoch Anhaltspunkte dafür, dass der Anwalt den Streitstoff nicht angemessen vermitteln kann, gehöre es zur Fürsorgepflicht des Gerichts, die Unterlagen in Blindenschrift zur Verfügung zu stellen, so die Verfassungsrichter.

Anspruch gilt, wenn der Anwalt nicht gut vermitteln kann

Auch das Bundessozialgericht in Kassel bekräftigte am 18. Juni 2014, dass blinde und sehbehinderte Menschen einen Anspruch auf „barrierefreie Zugänglichmachung von Dokumenten im gerichtlichen Verfahren“ hätten. Voraussetzung hierfür sei, dass ihr Anwalt den Streitstoff nicht gut vermitteln könne. Die Betroffenen hätten dann ein Wahlrecht, ob sie die Schriftsätze in Blindenschrift, als Hörkassette, in Großdruck oder auch in elektronischer Form erhalten wollen. Allerdings müsse der Betroffene unverzüglich dem Gericht die Blindheit oder Sehbehinderung mitteilen. Auch müsse klar sein, in welcher Form ihm die gerichtlichen Dokumente zugänglich gemacht werden können.

Ob in dem vom LSG entschiedenen aktuellen Fall die Beschwerdeführerin ohne Anwalt einen Anspruch auf barrierefreien Zugang hätte geltend machen können, hatten die Münchener Richter nicht zu entscheiden.

Az.: L 2 U 313/24 B ER (Landessozialgericht München)

Az.: 1 BvR 856/13 (Bundesverfassungsgericht)

Az.: B 3 P 2/14 B (Bundessozialgericht)

Frank Leth