
Sechseinhalb Wochen nach der Bundestagswahl steht der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. Auf 144 Seiten treffen die drei Parteien zahlreiche Festlegungen, etwa zur Migrationspolitik oder zum Bürgergeld. Zugleich bleiben viele Fragen offen.
Berlin (epd). Bei der Vorstellung ihres Koalitionsvertrags haben sich Union und SPD am 9. April in Berlin bemüht, Aufbruchstimmung zu verbreiten. „Hinter uns liegt ein hartes Stück Arbeit, aber vor uns liegt ein starker Plan“, fasste CDU-Chef Friedrich Merz die Verhandlungen mit SPD und CSU zusammen. Bei der Präsentation des Vertrags hob er unter anderem einen „neuen Kurs“ in der Migrationspolitik hervor. SPD-Chef Lars Klingbeil nannte den Vertrag ein „Aufbruchsignal“.
Pläne zum Bürgergeld
Nach dem Willen von CDU, CSU und SPD ist das Bürgergeld bald Geschichte. Ersetzt werden soll die Sozialleistung laut dem Koalitionsvertrag durch eine „Grundsicherung für Arbeitssuchende“, die sich insbesondere durch strengere Regeln auszeichnet. Der sogenannte Vermittlungsvorrang, den es schon zu Zeiten von Hartz IV gab, soll „für die Menschen, die arbeiten können“, wieder eingeführt werden. Das bedeutet, dass die Vermittlung in einen Job Vorrang hat vor Weiterbildung und Qualifizierung, etwa dem Erreichen eines Berufsabschlusses.
Wer gegen Mitteilungs- und Mitwirkungspflichten verstößt, dem können schon heute Leistungen gekürzt werden. Künftig sollen diese „schneller, einfacher und unbürokratischer durchgesetzt werden“. Allerdings können auch heute Sanktionen schon ab der ersten Pflichtverletzung verhängt werden. Die Pflichten an sich sollen ebenfalls verschärft werden. „Bei Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen“, heißt es weiter.
Bei den Kosten für die Unterkunft, die der Staat bezahlt, gilt derzeit eine Karenzzeit von einem Jahr - erst danach wird geprüft, ob diese als zu hoch eingestuft werden und ein Umzug als sinnvoll erachtet wird. „Dort, wo unverhältnismäßig hohe Kosten für Unterkunft vorliegen, entfällt die Karenzzeit“, heißt es nun im Koalitionsvertrag. Änderungen sind zudem bei den Freibeträgen für Vermögen vorgesehen. Die Regelung, dass im ersten Jahr des Leistungsbezugs deutlich höhere Vermögen unangetastet bleiben als später, fällt weg. Außerdem soll die Höhe des Schonvermögens an die „Lebensleistung“ gekoppelt werden. Bislang gilt nach Ablauf des ersten Jahres ein einheitlicher Betrag von 15.000 Euro pro Person.
Pläne zur Migration
Die Koalition aus CDU, SPD und CSU will nach eigener Formulierung „Migration ordnen und steuern und irreguläre Migration wirksam zurückdrängen“. Besondere Betonung legt sie auf das Wort „Begrenzung“. Auch Asylsuchende sollen künftig an den Grenzen zurückgewiesen werden. Bislang wird das nur für Menschen praktiziert, die kein gültiges Visum oder eine entsprechende Aufenthaltserlaubnis haben, nicht für Schutzsuchende. Die Zurückweisungen sollen „in Abstimmung mit den europäischen Nachbarn“ erfolgen.
Humanitäre Aufnahmeprogramme wie etwa das für Ortskräfte und Menschenrechtler in Afghanistan eingerichtete Kontingent sollen „so weit wie möglich“ beendet werden. Neue Programme, mit denen besonders Schutzbedürftige direkt ausgeflogen werden, wollen Union und SPD laut Koalitionsvertrag nicht auflegen. Der Familiennachzug zu Menschen mit subsidiärem Schutzstatus soll für zwei Jahre ausgesetzt werden. Seit 2018 können enge Angehörige dieser Flüchtlingsgruppe über ein Kontingent aufgenommen werden, das 1.000 Plätze pro Monat umfasst. Subsidiären Schutz erhalten Menschen, die nicht direkt individuell verfolgt werden, in der Heimat aber etwa wegen eines Konflikts an Leib und Leben bedroht sind.
Schwarz-Rot will auch die Zahl der Abschiebungen weiter steigern. Ein Ansatz ist dabei, Herkunftsländer zur Rücknahme ihrer Staatsangehörigen zu bewegen. Beim Einbürgerungsrecht ist vorgesehen, die Verkürzung der Wartezeit von fünf auf drei Jahre zu streichen.
Pläne zur Rente
Das Rentenniveau soll „bei 48 Prozent gesetzlich bis zum Jahr 2031“ festgelegt werden, heißt es im Vertrag von CDU, CSU und SPD. Die sogenannte Mütterrente wird dem Papier zufolge ausgeweitet: Dieser Aufschlag auf die Rentenpunkte für Erziehungszeiten soll künftig „für alle“ gelten. Bisher bezieht er sich nur auf die Erziehung von Kindern - auch durch Männer -, die vor 1992 geboren wurden. Finanziert werden soll dies aus Steuermitteln.
Das Arbeiten über das gesetzliche Renteneintrittsalter hinaus wollen Union und SPD attraktiver machen. Wer dies tut, soll bis zu 2.000 Euro im Monat steuerfrei verdienen können, deutlich mehr als jetzt. Ebenfalls geplant ist ein Zuschuss zur Altersvorsorge von Kindern zwischen 6 und 18 Jahren: Für sie sollen ab dem kommenden Jahr pro Monat zehn Euro in ein „individuelles, kapitalgedecktes und privatwirtschaftlich organisiertes Altersvorsorgedepot“ eingezahlt werden. Als Erwachsene sollen sie dann weiter einzahlen können. „Die Erträge aus dem Depot sollen bis zum Renteneintritt steuerfrei sein“, heißt es weiter. Bei Erreichen der Regelaltersgrenze kann das Ersparte dann ausgezahlt werden.
Pläne zum Gesundheitssystem
CDU, CSU und SPD wollen den Zugang zu Fachärzten und -ärztinnen neu regeln. Laut dem Koalitionsvertrag wird ein „Primärarztsystem“ eingeführt: Der erste Weg führt demnach in der Regel in eine Haus- oder Kinderarztpraxis - dort wird entschieden, ob ein Facharzttermin nötig ist. Ausnahmen soll es für Augenheilkunde und Gynäkologie geben.
Außerdem nehmen sich die Koalitionäre eine „große Pflegereform“ vor. Die Details bleiben vorerst offen - eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe soll beauftragt werden, Vorschläge zu machen. Die Kommission soll vor Jahresende Ergebnisse vorlegen. Reformiert werden sollen auch die Notfall- und Rettungsdienste. Hierzu nennt der Koalitionsvertrag ebenfalls keine Einzelheiten.
Die unvollendete Krankenhausreform der Ampelkoalition soll weiterentwickelt werden. In zwei Schritten soll eine Vorhaltevergütung eingeführt werden. Für die Grund- und Notfallversorgung sollen für den ländlichen Raum Ausnahmen und erweiterte Kooperationen ermöglicht werden. Die Definition, was ein Fachkrankenhaus ist, soll überarbeitet werden, damit solche Häuser in den Ländern erhalten bleiben können. Was bislang die gesetzlichen Krankenkassen in den Jahren 2022 und 2023 für die Transformation bezahlen sollten, soll nun aus dem Sondervermögen Infrastruktur beglichen werden.
In vielen Punkten vage
Bei weiteren zuvor sehr umstrittenen Punkten bleibt der Koalitionsvertrag vage: So heißt es zur im vergangenen Jahr beschlossenen Legalisierung von Cannabis, dass das Gesetz in diesem Herbst evaluiert wird. Beim Thema Organspende lautet das Ziel, die Zahl der Spenden zu erhöhen - ohne zu sagen, wie. Den Streit um die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen klammert der Koalitionsvertrag aus, verspricht aber eine Erweiterung der Kostenübernahme durch die Krankenkassen.