
Der Vorsitzende der Ruhrgebietskonferenz Pflege, Ulrich Christofczik, fordert von der neuen Bundesregierung Pflegereformen „ohne jede Zeitverzögerung“. Ziel müsse eine bezahlbare Versorgung sein, sagt er im Interview mit epd sozial: „Dazu muss das ganze System rigoros vereinfacht und das Ordnungs- und Leistungsrecht durchlässiger werden.“
Gelsenkirchen (epd). Aus der Sicht des Arbeitgeberzusammenschlusses Ruhrgebietskonferenz Pflege fehlt es dem Koalitionsvertrag von Union und SPD an Ambitionen, die Pflege in Deutschland radikal umzubauen und für die Zukunft starkzumachen. Allein der Plan, erst eine Kommission ohne Branchenexperten einzuberufen, um Reformpläne erstellen zu lassen, „trägt kafkaeske Züge“, rügt Ulrich Christofczik. Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Herr Christofczik, im Koalitionsvertrag kommt es auf die Verben an. Unter dem Kapitel Pflege heißt es: „Wir wollen eine gute, bedarfsgerechte und bezahlbare medizinische und pflegerische Versorgung für die Menschen im ganzen Land sichern.“ Eine feste Zusicherung sehen Sie darin nicht. Aber können sich nicht unter diesen grundlegenden Ankündigungen alle Betroffenen sammeln?
Ulrich Christofczik: Nein. Entscheidend ist für uns das Wörtchen „sichern“. Diese Formulierung im Koalitionsvertrag suggeriert doch, dass der Status quo „gut“ ist und nur gesichert werden muss. Doch die heutige Situation vieler Betroffener und zahlreicher Betriebe ist kritisch. Wenn wir dieses System nur sichern, laufen wir geradewegs in einen demografischen Tsunami. Der Koalitionsvertrag ist in vielen Punkten inhaltlich identisch mit dem der gescheiterten Ampel-Regierung und zögert notwendige Reformen nur heraus.
epd:: Sie vermissen konkrete, mutige und verbindliche Maßnahmen zur nachhaltigen Verbesserung der Pflegestrukturen in Deutschland und einen realistischen Plan. Was steht aus Ihrer Sicht ganz oben auf der Reformagenda?
Christofczik: Das ist die zukunftssichere Ausfinanzierung von bedarfsgerechter und für die Betroffenen bezahlbare Versorgung. Dazu muss das ganze System rigoros vereinfacht werden. Wir fordern nicht umsonst seit Jahren ein durchlässiges Ordnungs- und Leistungsrecht. Wir fordern nicht umsonst sektorenübergreifende Versorgungsformen und die Deregulierung von alternativen Wohn- und Betreuungsformen. Der sektorenübergreifende Personal- und Ressourceneinsatz wäre ein wichtiger Beitrag zur Behebung des Arbeitskräftemangels in der Langzeitpflege und würde zu erheblichen Effizienzgewinnen führen.
epd: Es mag ja nicht völlig verkehrt sein, erst noch einmal einen Schritt zurückzugehen und eine Kommission aus Fachleuten zu den Reformanliegen zu bemühen. Warum, außer vielleicht aus Zeitgründen, gehen Sie da nicht mit?
Christofczik: Es ist nur eine Kommission aus Fachpolitikern und den Vertretern der kommunalen Spitzenverbände vorgesehen. Wissenschaftler und deren Erkenntnisse aus den zurückliegenden Jahren werden nicht einbezogen, von Praktikern und Betroffenen ganz zu schweigen. Die Pflegepolitik trägt schon fast kafkaeske Züge. Es liegt eine Vielzahl von fundierten Vorschlägen aus der Branche vor, von denen im Koalitionsvertrag nirgendwo die Rede ist. Wir haben das Vertrauen verloren, dass die Politik uns wirklich ernst nimmt.
epd: Warum findet die Politik nicht den Mut, hier endlich loszulegen?
Christofczik: Das müssen Sie die Politikerinnen und Politiker fragen. In diesen Zeiten ist es scheinbar nicht opportun, den Menschen hinsichtlich ihrer möglicherweise notwendigen pflegerischen Versorgung reinen Wein einzuschenken. Wenn ich absehbar immer mehr Menschen versorgen muss, aber dafür nicht mehr Mittel einsetzen will oder kann, dann muss ich den Betroffenen erklären, dass sie für ihre Beiträge in Zukunft weniger zu erwarten haben. Alternativ muss ich die Beiträge erhöhen, was im Augenblick kein Politiker seinen Wählern zumuten will. Wir bräuchten eine Bundesregierung, die den Mut zu einem offenen und schonungslosen Dialog über eine neue Aufgaben- und Lastenverteilung in der Versorgung von pflegebedürftigen Menschen aufbringt.
epd: Viele Fachleute beklagen im Koalitionsvertrag eine Unwucht aus ambulanter und stationärer Pflege. Wie bewerten Sie die Ankündigungen?
Christofczik: Das können wir nicht nachvollziehen. Unter diesem Koalitionsvertrag hätten alle Leistungsbereiche zu leiden. In der Langzeitpflege gibt es keine Gewinner.
epd: Die versprochene Stärkung der pflegenden An- und Zugehörigen gilt als Lichtblick. Stimmen Sie zu?
Christofczik: Wer sieht darin einen Lichtblick? Für die An- und Zugehörigen hat der Koalitionsvertrag drei Sätze übrig, deren Nutzen und Wirksamkeit mehr als vage bleiben. Zumal - wie wir ja fast jeden Tag hören - alle Ankündigungen unter Finanzierungsvorbehalt stehen.
epd: Wenn es um die zentrale Frage geht, wie die Heimbewohner von Zuzahlungen befreit werden können, stehen im Grunde seit Jahren zwei Modelle im Raum: Vollversicherung und Sockel-Spitze-Tausch, also die Deckelung der selbst zu tragenden Kosten. Welche Alternative erscheint ihnen die bessere?
Christofczik: Uns ist es egal, wie das Kind am Ende heißt. Zentral ist für uns, dass Pflege nicht wieder zum Armutsrisiko Nummer eins für die Betroffenen wird. Pflege muss kalkulierbar und für alle Menschen zugänglich und bezahlbar bleiben. Ein Abschieben auf die Kommunen ist für uns auch keine Lösung.
epd: Zum Fachkräftemangel und wie er behoben werden muss, finden sich ebenfalls nur vage Aussagen im Koalitionsvertrag. Wie schnell sollte hier der Hebel umgelegt werden und was wären die Folgen, wenn keine schnelle Besserung eintritt?
Christofczik: Hier hat niemand eine echte Lösung zur Hand. Bis zum Jahr 2023 hätten sich 50 Prozent aller Schulabgänger für einen Gesundheitsberuf entscheiden müssen, um den Bedarf auf der Grundlage der heutigen Leistungsversprechen zu decken. Heute sind es rund 15 Prozent, und der Wettbewerb um die Schulabgänger ist in vollem Gange.
epd: Sollten mehr Fachkräfte im Ausland angeworben werden?
Christofczik: Pauschale Rekrutierungsmaßnahmen im Ausland sind für die Langzeitpflege nicht zielführend. Fachkräfte landen wegen der Gehaltsunterschiede zwischen Kliniken und Krankenhäuser auf der einen und Einrichtungen der Langzeitpflege auf der anderen Seite fast immer im Akutbereich. Hier müssten zumindest die Gehaltsunterschiede abgebaut werden. Außerdem brauchen wir dringend Erleichterungen bei Zuzug und Anerkennung für Arbeitskräfte aus dem Ausland. Vor allem für Menschen, die hier eine Ausbildung machen wollen. Der Zugang der Pflege an die allgemeinbildenden Schulen sollte erleichtert und Praktika im Gesundheitswesen zum Regelangebot gemacht werden. Wenn uns kein Turnaround gelingt, werden wir noch mehr „freiwillige“ Rationierung in der Pflege erleben.
epd: Letzter Kritikpunkt: Finanzierungsfragen in der Pflege. Die Pflegekasse bräuchte dringend mehr Geld aus dem Bundeshaushalt, ansonsten steigen die Beiträge wohl weiter. Doch davon findet sich nichts in den Vereinbarungen. Und die Übernahme von versicherungsfremden Leistungen wird nur geprüft. Was bedeutet das für Heime und ambulante Dienste?
Christofczik: Wenn der finanzielle Rahmen so bleibt, wie er ist, wird das auf eine Stagnation des Angebotes hinauslaufen. Für die Träger wird das angesichts der wachsenden Nachfrage kaum Auswirkungen haben. Wir machen halt auf niedrigerem Niveau weiter, aber für die Betroffenen werden die Versorgungslücken immer größer. Das wird auch Folgen für andere Wirtschaftsbereiche haben. Mehr pflegende Beschäftigte werden aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssen, um ihre An- und Zugehörigen zu versorgen.