Sozialforscher: SPD wird sich für die Grundsicherung nicht verkämpfen
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Stefan Sell

Der Sozialforscher Stefan Sell erwartet eine Rückabwicklung des Bürgergelds. Vermutlich werde die neue Grundsicherung, die im Sondierungspapier von Union und SPD angekündigt ist, „zu einem Hartz V“ - mit noch härteren Regelungen, sagte der Koblenzer Professor im Interview mit epd sozial.

Koblenz (epd). Stefan Sell sagt: „Man muss realistisch sehen, was kommen wird.“ Carsten Linnemann (CDU) werde die Arbeitsgruppe „Arbeit und Soziales“ bei den Koalitionsverhandlungen leiten. Er sei einer der maßgeblichen Protagonisten in den vergangenen Monaten gewesen, als das Bürgergeldsystem unter Beschuss genommen wurde: „Er wird diesen Kurs fortführen und zu radikalisieren versuchen.“ Die SPD habe auch in der Vergangenheit nur halbherzig hinter dem Bürgergeld gestanden. Ihr seien „die rentenpolitischen Punkte wichtiger, die sie der Union abverhandeln muss“. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Herr Professor Sell, noch steht das Aus des Bürgergelds nur im Papier mit den Sondierungsergebnissen von Union und SPD. Aber damit zeichnet sich eine Rückkehr zu Hartz IV schon deutlich ab. Erwarten Sie hier, dass die SPD bei den Koalitionsgesprächen doch noch ihr soziales Gewissen entdeckt?

Stefan Sell: Nein, es wird wahrscheinlich keine substanziellen Änderungen bei der Marschrichtung mehr geben, denn die Union braucht hier einen symbolpolitischen Punkt und wird Korrekturen nicht mehr zulassen. Außerdem muss man sehen, dass die SPD schon in der Ampelkoalition Schritt für Schritt in Richtung auf die Forderungen aus der Union sowie damals noch der FDP eingeschwenkt ist und diese teilweise sogar überholt hat.

epd: Welche Entscheidungen meinen Sie?

Sell: Ende des Jahres 2023 wurden 100 Prozent Sanktionen für sogenannte Totalverweigerer angekündigt. Eine entsprechende Regelung im Paragrafen 31a Abs. 7 SGB II trat Ende März 2024 in Kraft. Dann gab es Änderungen im Kontext der Diskussion über die angeblichen und einigen tatsächlichen „Totalverweigerern“, die im SGB II vorgenommen wurden. Zu nennen ist auch das „Gesetz zur Modernisierung der Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderung“ (SGB-III-Modernisierungsgesetz) vom September 2024. Darin war unter anderem vorgesehen, dass künftig bei einer Pflichtverletzung die Leistungen einheitlich um 30 Prozent des jeweils maßgebenden Regelbedarfs gemindert werden - für drei Monate. Die bisherige stufenweise Minderungshöhe wird abgeschafft. Und bei einem Meldeversäumnis werden die Leistungen ebenfalls um 30 Prozent des Regelbedarfs für einen Monat gemindert. Der Gesetzentwurf ist im Geburtskanal steckengeblieben wegen des vorzeitigen Auseinanderbrechens der Ampelkoalition.

epd: In der Union werden Stimmen laut, Kanzlerkandidat Merz habe in Sachen Schuldenbremse eine Kehrtwende hingelegt. Bei der SPD muss man das in Sachen Bürgergeld so sehen. Wie erklären Sie die Abkehr von ihrem einstigen Reformprojekt?

Sell: Meine Wahrnehmung ist, dass das Bürgergeld zumindest für den Mainstream der SPD kein wirkliches Herzensanliegen war in dem Sinne, dass man wirklich substanzielle Veränderungen vornehmen wollte. Vielen in der SPD ging es vor allem um eine semantische Entsorgung von Hartz IV, weil dieser Begriff der SPD negativ zugeschrieben wurde. Nur eine eher überschaubare Gruppe in der SPD hatte neben dem symbolpolitischen Zugang auch einen inhaltlichen Reformimpuls. Vor allem aus den Reihen der Grünen wurde vonseiten engagierter Fachpolitiker das Projekt Bürgergeld vorangetrieben.

epd: 2022 sagte SPD-Parteichefin Saskia Esken: „Mit dem Abschied von Hartz IV geben wir zeitgemäße Antworten auf die sozialen Fragen im Land und setzen ein zentrales Versprechen aus unserem Wahlkampf und Koalitionsvertrag um. Das ist soziale Politik, die den betroffenen Menschen ebenso dient wie dem Land.“ Warum soll das heute keinen Bestand mehr haben?

Sell: Weil sich die Zeiten erheblich gewendet haben. Die beispiellose Kampagne, die wir vor dem Auseinanderbrechen der Ampel gegen das Bürgergeld und ganz bestimmte Empfänger erlebt haben, hat auch Schneisen bei den Sozialdemokraten beziehungsweise deren Mehrheitskreisen geschlagen. Es gab seit Jahrzehnten in einer beeindruckenden Regelmäßigkeit immer wieder öffentliche inszenierte Debatten über einen angeblichen oder tatsächlichen Missbrauch von Sozialleistungen. Vor allem, wenn es darum ging, Leistungsverbesserungen zu verhindern oder gegebene Leistungen zu diskreditieren, um sie dann einzuschränken. Aber die Wucht dessen, was wir in den vergangenen zwei Jahren beim Bürgergeld erlebt haben, ist von einer neuen Qualität und Durchschlagskraft. Selbst zaghafte Reformvorschläge werden sofort in einen medialen Strudel gezogen, der von massiver Zerstörungskraft und zugleich falscher Orientierung für die Bürger ist, die nicht zu den Experten gehören.

epd: Es geht nicht nur um eine Umbenennung, weg vom Bürgergeld, mit dem die Union seit jeher gefremdelt hat, sondern hin zu einer „Grundsicherung für Arbeitssuchende“. Wo liegen die bisher erkennbaren Unterschiede zum bestehenden Bürgergeld?

Sell: Man kann das vielleicht so zusammenfassen, dass es um eine Rückabwicklung der im Übrigen überschaubaren Neuerungen geht, die das Bürgergeld im Vergleich zum Hartz-System gebracht hat. Um ein Zurück zu Hartz IV sowie zumindest semantisch an einigen Stellen zu einem Hartz V im Sinne von noch härter daherkommenden Regelungen. Auch die „Neue Grundsicherung“, ein Begriff aus den Reihen der CDU, ist alter Wein in semantisch neuen Schläuchen.

epd: Die Drohkulisse ist schon aufgebaut: Arbeitsfähige können künftig zumutbare Arbeit nicht wiederholt verweigern, ohne den vollständigen Verlust der Unterstützung zu riskieren. Doch steht dem nicht das Bundesverfassungsgericht im Weg, das den Erhalt von mindestens 30 Prozent des Regelsatzes vorgibt?

Sell: Dass das alles angeblich verfassungswidrig sei, das betonen ja alle Sozialverbände und Kritiker des Vorhabens. Aber daran gibt es begründeten Zweifel. Denn dass das Bundesverfassungsgericht mindestens 30 Prozent vorgibt, stimmt so nicht. Ganz im Gegenteil: In dem Sanktionsurteil aus Karlsruhe findet sich explizit der Hinweis, dass auch ein vollständiger Leistungsentzug (einschließlich der Wohnkosten) möglich und sogar geboten sei. Das läuft über den Bedürftigkeitsbegriff. Kurz gefasst wird argumentiert: Wenn man a) in der Lage ist, die Bedürftigkeit aufzulösen durch eigene Lohnarbeit, und b) das aber nicht macht, dann ist man c) gar nicht bedürftig. Und dann können einem die Leistungen vollständig verweigert werden.

epd: Was bedeutet das in der Umsetzungspraxis?

Sell: Das ist das eigentliche Schlupfloch, wenn man nicht primär von „hinten“ über Sanktionen kommen will. Man erhöht die Zugangshürden in das System und das kann man darüber versuchen, dass man höhere Anforderungen zum Nachweis der Bedürftigkeit stellt. Deshalb ist die eigentlich wichtige Formulierung im Sondierungspapier auch diese: Man wolle „Mitwirkungspflichten und Sanktionen im Sinne des Prinzips Fördern und Fordern verschärfen“. Die Mitwirkungspflichten sind der anvisierte Hebel. Zumindest auf dem Papier.

epd: Viele Sozialverbände fordern seit Jahren höhere Leistungen bei der Grundsicherung, schon wegen der Preissteigerung. Zum künftigen Regelsatz finden sich keine Angaben. Finden sich in dem Papier überhaupt irgendwelche Verbesserungen?

Sell: Nein.

epd: Was sind die Hintergründe für diesen verschärften Kurs in der Arbeitsmarktpolitik? Viel Geld lässt sich da kaum einsparen.

Sell: Da haben Sie völlig recht. Das Einsparvolumen ist mehr als überschaubar. Insofern muss man den verschärften Kurs vor allem politpsychologisch interpretieren. Wir bewegen uns in dem engen Feld der Debatte über schärfere Sanktionen in einem haushälterisch verlorenen Krieg, denn es lassen sich hier keine nennenswerten Summen einsparen. Aber man bedient die hoch emotionalisierte Debatte, die sich auch daraus speist, dass bei diesem Thema tief sitzende Gerechtigkeitsvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft verletzt werden und jeder Einzelfall wie ein Brandbeschleuniger wirkt. Man muss realistisch sehen, was kommen wird. Carsten Linnemann (CDU) wird die Arbeitsgruppe „Arbeit und Soziales“ bei den Koalitionsverhandlungen leiten. Er war einer der maßgeblichen Protagonisten in den vergangenen Monaten, als das Bürgergeldsystem unter Beschuss genommen wurde. Er wird diesen Kurs fortführen und zu radikalisieren versuchen. Die SPD wird sich vermutlich an dieser Stelle wohl nicht verkämpfen, denn ihr sind die rentenpolitischen Punkte wichtiger, die sie der Union abverhandeln muss.