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Das Problem der psychischen Störungen unter Flüchtlingen lässt sich der Psychotherapeutin Eva van Keuk zufolge relativ einfach beherrschen. Doch die aktuelle Migrationsdebatte verschlimmere es.
Düsseldorf (epd). Seit den Anschlägen von Magdeburg und Aschaffenburg wird scharf über Migration und insbesondere über Zuwanderungsbegrenzung diskutiert. Genau die falsche Debatte und zudem unethisch sei das, sagt die Psychotherapeutin Eva van Keuk, Vorständin des Psychosozialen Zentrums für Geflüchtete Düsseldorf (PSZ), dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Fragen stellte Nils Sandrisser.
epd sozial: Frau van Keuk, Sie arbeiten mit psychisch belasteten Migranten. Würde eine radikale Begrenzung des Zuzugs die Zahl von Gewalttaten senken?
Eva van Keuk: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Die Debatte gibt auf wichtige Fragen völlig falsche Antworten. Wenn Menschen, die schutzbedürftig sind, draußen bleiben, dann ist die Gefahr eines Amoklaufs kein bisschen gebannt oder verringert. Je schwieriger die Fluchtwege gestaltet werden, je höher die Mauern gezogen werden, desto schwerer werden die psychischen Belastungen derjenigen, die es überhaupt noch schaffen, anzukommen. Wenn ein Staat signalisiert, dass alle Fliehenden komplett unerwünscht sind, dann zerrüttet das auch die Motivation und die Kraft und die Ressourcen der geflüchteten Menschen.
Es ist absolut erschütternd, was in Aschaffenburg passiert ist. Aber das, was wir nun erleben, halte ich für eine in hohem Maße unethische Instrumentalisierung dieses Dramas. Ich plädiere für eine rationalere Diskussion über Migration und Flucht, die sich weniger aus Angst und Stereotypen nährt, sondern schlicht faktenbasiert und nah an der Realität erfolgt.
epd: Im Fokus der Debatte stehen auch psychische Störungen von Flüchtlingen. Bekannt ist, dass Faktoren vor und während der Migration die Belastung erhöhen, aber auch Erfahrungen hier in Deutschland. Erhöht die Debatte den psychischen Druck auf Flüchtlinge zusätzlich?
van Keuk: Bei traumatisierten Geflüchteten ist durch die Debatte tatsächlich ein Schaden entstanden. Wir erleben hier in unserer Arbeit täglich deren große Angst darum, ob es hier für sie überhaupt noch eine Zukunft geben kann. Übrigens nicht nur bei Geflüchteten - selbst bei Menschen, die hier längst angekommen sind, hohe Bildungsabschlüsse erreicht haben oder sogar schon in zweiter Generation hier sind, entstehen diese Fragen.
epd: Lässt sich auf diesen Druck zurückführen, dass sich psychische Störungen und Erkrankungen verschlimmern?
van Keuk: Ein konkretes Beispiel: Einer meiner Klienten, der aus einem afrikanischen Land stammt und in der Ukraine studiert hat, dort bei einem Bombardement seine Verlobte verloren hat, hierher geflohen ist und mit typischen Traumasymptomen kämpft, hat seit den Wahlkampfdebatten eine um 50 Prozent verstärkte depressive Symptomatik. Er stellt sich die Frage, ob es irgendwo auf diesem Globus einen Ort geben könnte, an dem er eine Zukunft und ein Zuhause aufbauen kann. Diese Perspektivlosigkeit unterhöhlt seine ganzen Integrationsbemühungen. Die Triggerbarkeit von Menschen, die Gewalt erfahren haben und in unsicherer Aufenthaltssituation sind, erleben wir hier jeden Tag. Die Debatten, die wir gerade führen, sind wirklich Gift.
epd: Sie sprachen von Depressionen, die sich verschlimmern. Kann vielleicht auch gewalttätiges Verhalten häufiger auftreten? Sind wir in einem Teufelskreis aus scharfer Migrationsdebatte und Gewalttaten?
van Keuk: Der Eindruck könnte entstehen durch die letzten furchtbaren Attentate. Aber genau betrachtet trifft das wohl nicht zu, auch weil die Taten zu unterschiedlich sind. In Magdeburg war es nach meinem Kenntnisstand ein gut integrierter Islamhasser aus Saudi-Arabien, der die AfD unterstützte. In Aschaffenburg hatten einige der Opfer selbst eine Einwanderungsgeschichte. Es ist also wesentlich vielschichtiger, als der Diskurs vermuten lässt.
Auf zwei Schnittfelder in der Versorgung müssten wir genauer hinschauen: einmal der Bereich Traumafolgestörungen und Suchterkrankungen, sowie schwere psychische Störungen und Gewaltbereitschaft. Wo kommen Menschen mit und ohne Einwanderungs- oder Fluchtgeschichten an? Wie funktioniert die Früherkennung und der Zugang zur Versorgung? Wer behandelt sie langfristig? Wie verzahnen sich klinische stationäre und ambulante Angebote? In den PSZ sind wir für die Begleitung, Beratung und Behandlung von psychisch belasteten Geflüchteten gut aufgestellt, wir können viel präventiv erkennen und Krisen auffangen. Aber wir als ambulant arbeitende PSZ brauchen die Kooperation mit stationären und ambulanten Angeboten der Psychiatrie, um Menschen mit schweren psychischen Störungsbildern eine erforderliche Medikation und Stabilisierung zu ermöglichen.
epd: Können sich Psychosen mit Gewaltbereitschaft durch die Debatte verstärken?
van Keuk: Zunächst: Das Ausmaß von Fremdgefährdung wird grotesk überschätzt, wohl auch durch die zurückliegenden Gewalttaten beziehungsweise die anschließenden Debatten. Menschen mit psychotischen Störungsbildern sind stresssensibel und oft von Stigmatisierung betroffen, hier gibt es meines Wissens keine Unterschiede zwischen Geflüchteten und Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft.
Was die Debatte betrifft: Wesentlich ist der mangelnde Zugang zu Versorgung für die Gruppe der Geflüchteten. Selbst wenn jemand mit einem psychotischen Störungsbild die Debatte beunruhigt verfolgen und dadurch zusätzlich gestresst werden würde, hätte er ja ein Ventil, wenn er die Möglichkeit hätte, über seine Sorgen und Ängste zu sprechen, oder könnte gegebenenfalls medikamentös gegensteuern. Dies erlebe ich in der niedrigschwelligen Begleitung eines Klienten mit chronischer psychiatrischer Erkrankung immer wieder. Es geht - übrigens auch bei traumatisierten Klientinnen und Klienten - um den Unterschied zwischen realer Situation und störungsbedingter Symptomatik, und da dienen wir als vertrauenswürdige Brücken zur Realität.
epd: Wir haben es also in der Hand, psychische Belastungen von Flüchtlingen positiv zu beeinflussen?
van Keuk: Absolut. Das Problem dabei ist, dass gesetzliche Verschärfungen ja längst verabschiedet worden sind, die der Abschreckung dienen. Diese Maßnahmen aber sind gleichzeitig das Gegenteil dessen, was nötig wäre und was der Prävention dient. Ein Beispiel hierfür ist die Verlängerung der Zeit, in der Asylsuchende keinen Zugang zur Regelgesundheitsversorgung haben, von 18 auf 36 Monate. Ich denke, dahinter steht die Bemühung, der Stimmung in der Bevölkerung nach mehr Abschottung vermeintlich entgegenzukommen.
Grundsätzlich entscheiden vor allem die posttraumatischen Lebensrealitäten darüber, ob traumatisierte Menschen sich stabilisieren oder schwer erkranken: ein möglichst gutes Ankommen, ein subjektives Gefühl der Sicherheit, die Möglichkeiten der Tagesstruktur inklusive Schule für die Kinder, Sprache lernen, arbeiten können, Zugang zu Beratung und Behandlung erhalten. Wer hingegen in großen Flüchtlingscamps ohne Privatsphäre, ohne integrative Maßnahmen leben muss, wer Zeuge von Abschiebungen wird, kann schwerlich gut ankommen oder sich in Sicherheit wähnen. Und gegenläufig zu dem, was dringend notwendig wäre, wurden seit Beginn des Jahres viele Sozialarbeitsstellen in den Unterkünften gestrichen.
epd: Sie haben die aus Ihrer Sicht unethische Instrumentalisierung der Debatte angesprochen. Allerdings kann man ja auch ohne fremdenfeindliche Motivation die Frage stellen, ob man Einwanderung nicht begrenzen müsste. Etwa weil man unsere Möglichkeiten zur Bewältigung als nicht ausreichend einschätzt. Haben wir denn die Strukturen, um Flüchtlinge adäquat zu versorgen?
van Keuk: Es braucht zunächst eine gute Aufnahme und niedrigschwelligen Zugang zur Beratung inklusive systematischer Früherkennung. Wenn die PSZ vernünftig und längerfristig finanziert wären, könnten wir noch wesentlich effizienter arbeiten. Wir hier in Düsseldorf haben mehr als 24 Geldgeber. Für sie sind wir sehr dankbar. Gleichzeitig erstellen wir meist jährliche Anträge und Berichte, organisieren Spendenaktionen. Mit einer langfristigen Regelfinanzierung beziehungsweise einer institutionellen Förderung könnten wir viel mehr Ressourcen in die Versorgung unserer Klientinnen und Klienten stecken. Bei schweren psychischen Störungsbildern brauchen wir die enge Vernetzung mit sozialpsychiatrischen Diensten vor Ort.
epd: Wir könnten diese Strukturen also haben, wenn wir wollten?
van Keuk: Ja. Es ist gar nicht schwer, Menschen mit hohen Belastungen frühzeitig zu erkennen. Die Verfahren dazu sind längst entwickelt und bundesweit erprobt. Die allergrößte Barriere ist oft die Sprache. Eine flächendeckende Sprachmittlung wäre eine große Hilfe. Es wäre gut, endlich anzuerkennen, dass wir eine postmigrantische Gesellschaft sind und sprachlich divers. Es brauchen ja nicht nur frisch angekommene Geflüchtete eine Sprachmittlung, sondern auch ältere Migrantinnen oder Migranten, die beispielsweise dement werden und dann in ihre Muttersprache zurückfallen. Das alles müssten wir als Realität anerkennen und einen angemessenen Umgang damit finden, anstatt sich innerlich und äußerlich abzuschotten. Was oft vernachlässigt wird: Viele der Geflüchteten sind zu Beginn voller Hoffnung und bringen ihrerseits enorme Fähigkeiten und Ressourcen mit. Diese Motivationen sind oftmals ein wertvoller Schatz, der dann einfach in den Unsicherheiten und schlechten Lebensbedingungen aufgerieben wird.
epd: Nach vorliegenden Zahlen erhalten derzeit nur drei Prozent von Asylsuchenden, die eine psychosoziale Versorgung benötigen, adäquate Hilfe. Würde das nicht bedeuten, dass wir unsere Ressourcen in diesem Bereich mehr als verdreißigfachen müssten, um den Bedarf zu decken? Gibt es denn so viele Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten?
van Keuk: Laut einer Metastudie haben ungefähr 30 Prozent der Geflüchteten eine Traumafolgestörung. Aber diese 30 Prozent sind nicht alle therapiebedürftig. Schon die Verbesserung der Aufnahmebedingungen und der oft schlechten Unterkunftssituation würde die psychische Verwundbarkeit verringern, und damit den Therapiebedarf. Niedrigschwelliger Zugang zu Aufklärung und Beratung hilft, Symptome erst gar nicht entstehen zu lassen. Wir müssen die Versorgungsstrukturen gar nicht so viel multiplizieren, sondern nur für andere Aufnahmebedingungen sorgen, den Zugang zur Regelversorgung durch Sprachmittlung vereinfachen, für faire Asylverfahren sorgen - und endlich die längst vorliegenden Tools zur Früherkennung flächendeckend einsetzen. Das ist alles gar nicht so geheimnisvoll.
epd: Und wie ist es mit Ressourcen bei der Sprachmittlung, die Sie angesprochen haben? Dolmetschen im Gesundheitskontext oder gerade im Psychotherapiebereich ist ja oft schwierig. Zwei Sprachen zu sprechen reicht oft nicht, sondern man muss Fachbegriffe beherrschen, man muss sprachlich enorm sensibel sein, um Missverständnisse zu vermeiden. Und man muss psychologisch als Dolmetscher so weit geschult sein, dass man nicht Teil des Patientensystems wird, sondern Teil des Therapiesystems bleibt. Gibt es genug geeignete Leute dafür?
van Keuk: Tatsächlich ist es viel einfacher. Diese Fragen haben viele meiner niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen jenseits der PSZ auch. Viele trauen sich nur, in ihrer Erstsprache psychotherapeutisch zu arbeiten. Aber so eine Furcht ist nicht nötig. Es reicht oft eine zweistündige Schulung, um mit Sprachmittlerinnen und -mittlern adäquat umzugehen. Dabei gibt es Rollenspiele, und es wird behandelt, was aus Sicht der Patienten wichtig ist, was aus Sicht der Therapeutinnen und was aus Sicht der Sprachmittler. Ein Trick ist beispielsweise, eine Sprache zu nutzen, die auch ein aufgeweckter Zwölfjähriger verstehen würde. Dann ist es für eine Sprachmittlung viel leichter, das zu übersetzen, und es braucht keine Dolmetscher, die schon einen Psychologiemaster mitbringen. Ganz wichtig ist allerdings, dass Kinder nicht für ihre psychisch belasteten Eltern übersetzen müssen, wenn die Institutionen keine Sprachmittlung einsetzen. Dies ist ein No-Go, erst recht in der Therapie, und verursacht Schäden in den familiären Gefügen und in der Rolle des Kinds in seiner Beziehung zu seinen Erziehungsberechtigten.
Viel wichtiger als die Sprache ist ohnehin die Frage, ob sich Vertrauen entwickeln kann. Da kommt es viel auf die Personen an, auf das passende Matching. Jemand, der sprachlich perfekt ist, kann als Dolmetscher ungeeignet sein. Zum Beispiel, wenn in einer Therapie Patient und Sprachmittlerin beide aus dem Irak kommen, der Patient aber Folteropfer ist und der Vater der Dolmetscherin Aufseher im Gefängnis war. Es geht in der Psychotherapie weniger um das perfekte Jonglieren differenzierter Sätze, sondern um das Erzeugen von einer psychotherapeutisch wirksamen Arbeitsbeziehung, fokussierter Hoffnung und zunehmender Selbstwirksamkeit auf Seiten der Patientinnen und Patienten.