Inklusive Kinder- und Jugendhilfe: Wie geht es weiter?
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Silke Mehre

Mit dem Aus der Ampel kam auch die Reform der inklusiven Kinder- und Jugendhilfe zum Stillstand. Vielerorts wurden bereits Weichen gestellt. Doch es fehlt weiter ein verlässlicher gesetzlicher Rahmen, erläutert Silke Mehre von der Unternehmensberatung Contec GmbH in ihrem Gastbeitrag für epd sozial.

Ein Epochenwandel mit offenem Ausgang: Mit dem Inkrafttreten des Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) im Jahr 2021 schien der Weg zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe klar vorgezeichnet. Die Reform sollte bis 2028 in einem dreistufigen Verfahren umgesetzt werden. Der zweite Etappenschritt erfolgte planmäßig im Januar 2024: die Einführung der Verfahrenslotsen und -lotsinnen. Auch der nächste Meilenstein, das Bundesgesetz zur Zusammenführung der Leistungen aus SGB VIII und SGB IX, schien mit dem am 27. November 2024 vom Bundeskabinett verabschiedeten Referentenentwurf auf Kurs - bis der Bruch der Regierungskoalition im November 2024 das Vorhaben stoppte. Jetzt liegt es an der neuen Bundesregierung, den Prozess zügig wieder aufzunehmen. Soll die sogenannte „Inklusive Lösung“ wie geplant bis zum 1. Januar 2028 in Kraft treten, bleibt nicht mehr viel Zeit.

Breite Zustimmung trifft auf unsichere Rahmenbedingungen

Die Reform stößt in der Fachwelt auf breite Zustimmung. Vielerorts wurden bereits Weichen gestellt, um die Kinder- und Jugendhilfe weiterzuentwickeln. Doch es fehlt weiterhin ein verlässlicher gesetzlicher Rahmen und damit die Grundlagen für Länder, Kommunen, Träger der freien Jugendhilfe und Leistungserbringer der Eingliederungshilfe, um die Veränderungen gezielt anzugehen.

Zentrale Fragen sind weiterhin ungeklärt: • Wer gehört künftig zum leistungsberechtigten Personenkreis? • Welche Art und welcher Umfang an Leistungen sind vorgesehen? • Wer übernimmt die Finanzierung? • Welche Verfahrenswege sind vorgesehen?

Zwei Systeme - und viele bestehende Hürden

Vor allem aber geht es um nicht weniger als um die gleichberechtigte Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen. Zwar gilt der Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe grundsätzlich universell (§1 SGB VIII), jedoch sind Minderjährige mit einer körperlichen und/oder geistigen Behinderung bis jetzt weitestgehend von den Hilfen zur Erziehung (HzE) ausgeschlossen. Für sie ist das Hilfesystem der Eingliederungshilfe nach SGB IX zuständig.

Diese Aufspaltung der Zuständigkeit in zwei getrennte Systeme bringt jedoch erhebliche bürokratische Hürden mit sich: komplexe Antrags- und Bewilligungswege, Doppelungen und gegenseitige Erklärungen der Nicht-Zuständigkeit. Eine Zusammenarbeit oder Abstimmung der beteiligten Behörden findet bislang kaum statt.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich die fachlichen Ansätze grundlegend unterscheiden. Während die Jugendhilfe auf partizipative Verständigungsprozesse über geeignete Hilfen setzt, verfolgt die Eingliederungshilfe in den meisten Bundesländern ein standardisiertes Verfahren auf Grundlage der ICF-Kriterien (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit). Ziel ist es, den individuellen Bedarf personenzentriert zu ermitteln, Leistungsansprüche gegenüber verschiedenen Trägern verbindlich zu klären und das Leistungsgeschehen zu koordinieren.

Jetzt starten und Inklusion wagen

Wenn Hilfen in Zukunft also ganzheitlich und aus einer Hand unter der Gesamtzuständigkeit der öffentlichen Jugendhilfe erfolgen sollen, wie sieht dann die konkrete Ausgestaltung aus? Werden künftig alle Kinder und Jugendlichen unter einem Dach betreut? Oder bleiben zwei Systeme bestehen, die je nach individuellem Bedarf systemübergreifend agieren? Wie kann gewährleistet werden, dass Förder- und Entwicklungschancen überall gleich verteilt sind? Wie lassen sich unterschiedliche Ziele, Methoden, Qualitätsstandards, Berufsprofile, Fachkräftequoten und Personalschlüssel harmonisieren? Wie werden Strukturen, Leistungen, Verträge und Finanzierungsmodelle zusammengeführt? Und schließlich: Wer finanziert diesen umfassenden strukturellen Umbau?

Trotz der noch offenen Punkte sollten sich Leistungsträger und Leistungserbringer bereits jetzt auf den Weg machen und an der Neugestaltung ihrer Angebote arbeiten. Denn selbst wenn die Umsetzung der „Inklusiven Lösung“ nicht wie geplant zum 1. Januar 2028 in Kraft treten sollte, ist der Inklusionsgedanke bereits mit dem KJSG seit 2021 gesetzlich fest verankert. Regelungsbereiche wie beispielsweise die Stärkung und Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien, ein besserer Kinderschutz, mehr Prävention vor Ort sowie verbindliche Beschwerdemöglichkeiten für junge Menschen mit und ohne Behinderung sind somit schon heute Anforderungen zur Sicherstellung einer gleichberechtigten Teilhabe aller junger Menschen.

Die entscheidende Frage lautet daher: Wie gestalten wir den Paradigmenwechsel in unserer Organisation? Wie leben wir Inklusion vor Ort?

Von der Analyse zur Umsetzung

Ein erster Schritt kann eine Bestandsaufnahme sein: Welche Angebote bestehen bereits? Wo sind Anpassungen sinnvoll und notwendig? Darauf folgt die strategische Planung - mit Fokus auf Organisationsentwicklung, Personalstrategie und Finanzierung.

Mögliche Leitfragen für diesen Prozess: • Wo und wie verändern wir unser Angebot und unsere Prozesse? • Welche Kompetenzen benötigen unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und welche Fortbildungen sind erforderlich? • Welche Vernetzungs- oder Kooperationsmöglichkeiten bestehen?

An diese Planungsphase schließt sich idealerweise die Entwicklung neuer Konzepte und deren Erprobung in Pilotprojekten und später eventuell in Modellprojekten an. Auf Basis dieser Erfahrungen können sie anschließend weiterentwickelt und skaliert werden - mit regelmäßigen Überprüfungen und Anpassungen.

Zugegeben, das ist ein hochambitioniertes und komplexes Vorhaben. Doch es lohnt sich: Wer frühzeitig aktiv wird, nutzt die Übergangszeit nicht nur zur inhaltlichen Weiterentwicklung, sondern positioniert sich auch als zukunftsfähiger Anbieter. Schon jetzt werden bei Auswahlverfahren Träger beziehungsweise Leistungserbringer bevorzugt, die inklusiv aufgestellt sind.

Und auch intern bringt eine Neuausrichtung positive Impulse. Mitarbeitende sollten von Beginn an einbezogen und der Transformationsprozess partizipativ gestaltet werden. Die Themen Beteiligung, Selbstvertretung und die Stärkung von Rechten betreffen nicht nur die Leistungsempfängerinnen und -empfänger, sondern sollten auch für Mitarbeitende im Dienstalltag erlebbar sein.

Silke Mehre hat Sozialmanagement studiert und ist bei Unternehmensberatung Contec GmbH als Management- und Organisationsberaterin tätig.