Der Migrationsforscher Jochen Oltmer bemängelt die zu geringen Bleibemöglichkeiten für Asylbewerber, die sich hier ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können. Die Abschottungspolitik führe zur Ablehnung von Migration insgesamt.
Osnabrück (epd). Jochen Oltmer, Professor am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück, fordert vor dem Hintergrund der drohenden Abschiebung von zehn kolumbianischen Pflegekräften aus dem Landkreis Rotenburg einen sogenannten „Spurwechsel“ aus dem Asylsystem in den Arbeitsmarkt. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) spricht er sich dafür aus, dass Asylbewerber mit einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung künftig die Möglichkeit bekommen sollten, in Deutschland zu bleiben. Die betroffenen Kolumbianer hatten Asyl beantragt, wurden aber abgelehnt und sind jetzt ausreisepflichtig, falls nicht eine andere Möglichkeit gefunden wird. Ihr Pflegeheim hatte mitgeteilt, dass es ohne die Kolumbianer schließen müsse. Die Fragen stellte Martina Schwager.
epd sozial: Herr Professor Oltmer, es erscheint paradox, dass Deutschland Arbeitskräfte aus dem Ausland für viel Geld anwirbt, aber geeignete Migranten, die durch das Asylsystem fallen, abschiebt. Benötigen wir einen Spurwechsel aus dem Asylsystem in das System der Arbeitsmigration?
Jochen Oltmer: Ich denke schon, dass wir einen Spurwechsel benötigen. Menschen, die sich in einem Asylverfahren befinden, sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind und damit ihren Lebensunterhalt allein bestreiten können, sollten die Möglichkeit bekommen, in Deutschland zu bleiben. Das wird seit vielen Jahren diskutiert. Dennoch bleibt der Spurwechsel bis heute verboten, weil das Asylsystem auf Abschreckung ausgerichtet ist. Dahinter steht die Annahme, dass der Spurwechsel einen zusätzlichen Anreiz für Asyl-Einwanderung biete. Nachweisen lassen sich diese sogenannten Pull-Faktoren allerdings nicht.
epd: Welche Möglichkeiten gibt es, zum Arbeiten von außerhalb der EU nach Deutschland zu kommen?
Oltmer: Das wesentliche Instrument der Bundesregierung ist derzeit das Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Allerdings können sich lediglich ausgebildete Fachkräfte über dieses Gesetz für eine Einwanderung bewerben. Die deutsche Wirtschaft beklagt aber nicht nur einen Fachkräftemangel, sondern auch einen allgemeinen Arbeitskräftemangel. Zunehmend werden auch Menschen gesucht, die nicht unbedingt über erhebliche Qualifikationen verfügen müssen. Das wird über das Fachkräfteeinwanderungsgesetz nicht aufgefangen. Lange Zeit wurde der Arbeitskräftemangel durch ungelernte Kräfte aus der EU aufgefangen, etwa aus Bulgarien oder Rumänien. Doch die Potenziale innerhalb der EU werden zunehmend geringer. Der demografische Wandel hat mittlerweile alle Staaten in der EU erfasst. Da besteht die Notwendigkeit, Menschen mit geringen Qualifikationen von außerhalb der EU zum Arbeiten nach Deutschland zu holen. Dieser Bereich ist bislang jedoch gänzlich ungeregelt.
epd: Welche Möglichkeiten haben denn Menschen wie die zehn Kolumbianer, trotz abgelehnter Asylanträge in Deutschland zu bleiben?
Oltmer: Es gibt in Deutschland das Instrument des Chancenaufenthaltsrechts, das einen Spurwechsel ermöglicht. Das ist aber nur auf Menschen beschränkt, die vor 2017 eingereist sind. Auch die sogenannte Ausbildungsduldung wäre eine Möglichkeit des Spurwechsels. Dafür muss aber eine Ausbildung begonnen worden sein. Auf die zehn Kolumbianer aus dem Landkreis Rotenburg trifft das jedoch nicht zu.
epd: Sind aus Ihrer Sicht Verträge, die Deutschland mit Nicht-EU-Staaten zur Gewinnung von Fachkräften schließt, ein sinnvolles Instrument der Arbeitsmigration?
Oltmer: Die Abkommen, die Deutschland zuletzt geschlossen hat, dienen meist zum einen der Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern. Sie sollen zum anderen das Fachkräfteeinwanderungsgesetz begleiten und für den deutschen Arbeitsmarkt werben. Für die Rücknahme abgelehnter Asylbewerber erhalten diese Staaten Gegenleistungen - etwa in Form von Geld oder Visumserleichterungen. Damit sollen sichere Wege der Migration geschaffen werden. Das ist sinnvoll. Problematisch wird es jedoch, wenn solche Abkommen mit autokratischen Machthabern geschlossen werden, wie es mit Marokko, Kirgisistan oder Usbekistan der Fall ist. Abgeschobene Personen landen dann häufig in Gefängnissen oder miserablen Verhältnissen. Bei anderen Ländern wie Indien, Philippinen oder Brasilien geht es im Wesentlichen um Fachkräfteeinwanderung.
epd: Hinterlassen die auswandernden ausgebildeten Fachkräfte nicht Lücken in ihren Herkunftsländern?
Oltmer: Die Verträge werden zwar mit souveränen Staaten geschlossen, dennoch existiert zwischen den Vertragspartnern oftmals ein Machtgefälle. Es sollte nicht zu einem Ausverkauf von Fachkräften kommen. Das gilt insbesondere für den Bereich von Pflegekräften und medizinischem Personal. Wir haben es weltweit mit einem Mangel an Pflegekräften und medizinischem Fachpersonal zu tun. Sinnvoll wären Verträge, in denen sichergestellt wird, dass die ausbildenden Gesellschaften ebenfalls profitieren. Mit Ausbildungspartnerschaften könnten sie beim Ausbau der Ausbildungskapazitäten unterstützt werden, damit sowohl Herkunfts- als auch Ankunftsgesellschaften genügend Fachkräfte erhalten.
epd: Wie wirkt sich die seit Monaten eher ablehnende Haltung gegenüber Asylbewerbern auf die Anwerbung von Arbeitskräften aus?
Oltmer: Mit der schroffen Abschottungspolitik gegenüber Asylbewerbern wurde eine Stimmung erzeugt, die zunehmend zu einer Ablehnung von Migration insgesamt führt. Das ist sehr problematisch in einer Gesellschaft, die von Migration geprägt und auf Migration angewiesen ist. Migranten, die zum Teil seit Jahren und Jahrzehnten in Deutschland leben, erleben diese Stimmung für ihre eigene Lage als bedrohlich. Das erschwert die Bemühungen, Fachkräfte aus anderen Ländern zu gewinnen. Untersuchungen belegen, dass in vielen Ländern genau darauf geschaut wird, wie es um die sogenannte Willkommenskultur in Deutschland steht.