Spitzenverbände: Die Pflegepolitik bleibt eine große Baustelle
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Aron Schuster und Gerda Hasselfeldt

Wie sehen die Mitgliedsverbände der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in die nahe Zukunft? Was erwarten sie von der neuen Bundesregierung? epd sozial hat Vorsitzende, Präsidenten oder Direktoren gefragt. Zum Auftakt der Interviewserie antworten Aron Schuster, Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, und DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt.

Frankfurt a.M. (epd). Die Ampelregierung ist Geschichte, und ob vorgelegte Gesetzentwürfe vor der Wahl den Bundestag passieren werden, ist völlig offen. Viele Reformen, die die Sozialbranche mitunter seit Jahren fordert, liegen auf Eis. Zum Teil ist der Frust der Verbände groß, denn viele Probleme werden nicht kleiner, im Gegenteil. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Frau Hasselfeldt, Herr Schuster, Kindergrundsicherung, Schutz von Frauen vor Gewalt, Pflegefinanzierung oder Reformen bei der Vergütung von Betreuern: In welchem sozialpolitischen Bereich ist das Scheitern von angekündigten Reformen besonders bitter?

Aron Schuster: Die Pflegeversicherung steht finanziell am Rand der Zahlungsunfähigkeit, gefährdet die Versorgung von Millionen pflegebedürftiger Menschen in Deutschland und benötigt dringend stabilisierende Sofortmaßnahmen, um handlungsfähig zu bleiben. Gleichzeitig müssen die wirtschaftlichen Bedingungen der Pflegeeinrichtungen und -dienste verbessert werden, um weitere Einschränkungen im Pflegeangebot zu vermeiden. Eine Reform der Pflegeversicherung ist daher dringend geboten.

Gerda Hasselfeldt: Die Pflegepolitik bleibt weiter eine große Baustelle. Leider schließt sich das Zeitfenster, um den Abwärtstrend aufzuhalten. Die Verabschiedung bereits auf den Weg gebrachter Reformvorhaben ist höchst unwahrscheinlich. Dazu zählt zum Beispiel eine zentrale Maßnahme zur dringend nötigen Attraktivitätssteigerung der Pflegeberufe: Pflegefachpersonal als gut ausgebildete Menschen stärker an bisher ärztlichen Tätigkeiten zu beteiligen. Ausgebildete Pflegefachkräfte haben endlich mehr Wertschätzung und Anerkennung für ihre Kompetenzen und ihr Engagement verdient. Der dazu gerade noch im Kabinett beschlossene Gesetzentwurf der Bundesregierung ist unzureichend, weil er einen Großteil der Pflegenden unberücksichtigt lässt. Hier hätten wir unsere Expertise gerne noch im Gesetzgebungsprozess eingebracht. Das scheint nicht mehr möglich und es ist unklar, wie es hier überhaupt weitergeht.

Daneben hat man auch aufgrund vieler öffentlicher Kundgebungen gesehen, dass der Schutz von Frauen vor Gewalt dringend verbessert werden muss. Dazu gehören nicht nur gesetzliche Schutzvorschriften, sondern auch die ausreichende Finanzierung der Unterstützungsstrukturen wie Frauenhäuser.

epd: Auch der Fachkräftemangel, die zunehmende Armut und das Fehlen bezahlbarer Wohnungen bleiben als Probleme bestehen. Für welche dieser sozialpolitischen Herausforderungen wird auch die künftige Bundesregierung schnell Lösungen aufzeigen müssen?

Hasselfeldt: Im Bereich der Pflege befinden wir uns am Abgrund. Die Eigenanteile schießen durch die Decke, Arbeitskräfte fehlen an allen Ecken und Enden, wir sehen bereits jetzt unterversorgte Orte, und die Pflegeversicherung schreibt tiefrote Zahlen. Hier muss dringend gehandelt werden. Wir müssen viel stärker auch Nachbarschaft, Familien, nahestehende Personen sowie Verbände und Vereine in die Versorgung einbeziehen. Das muss organisiert und durch eine kluge Engagementpolitik begleitet werden. Diese sollte nachhaltig ausgerichtet sein und entsprechend auch Strukturförderung ermöglichen.

Schuster: Die genannten Herausforderungen bleiben allesamt Daueraufgaben, weil diese sich nicht von heute auf morgen werden lösen lassen. Lösungsansätze sind verbesserte Arbeitsbedingungen und Entlastung von Bürokratie zum Fachkräftegewinn vor allem in der Pflege, eine Bauoffensive und die Absenkung baurechtlicher Vorschriften zur Schaffung neuen Wohnraums. Auskömmliche soziale Sicherungssysteme, faire Löhne und Bildungsgerechtigkeit bleiben die Kernwerkzeuge im Kampf gegen Armut.

epd: Die Wirtschaft schwächelt, einen Haushalt 2025 gibt es noch nicht, bislang stehen die Zeichen überall auf Sparen - und die Schuldenbremse gibt es auch noch. Betroffen vom Rotstift wären viele soziale Bereiche, die Integrationskurse ebenso wie die Freiwilligendienste. Wo also soll das Geld herkommen, das es braucht, um die soziale Infrastruktur zumindest zu sichern, und wo wäre es am besten investiert?

Schuster: Ohne die Freie Wohlfahrtspflege hätten die jüngsten Krisen wie die Coronapandemie oder die Aufnahme Geflüchteter aus der Ukraine in dieser Form nicht bewältigt werden können. In Zeiten wachsender Unsicherheit braucht es umso mehr resiliente und krisensichere Strukturen, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu festigen. Die Freie Wohlfahrtspflege ist eine tragende Säule des Sozialstaats. Ohne funktionierenden Sozialstaat droht eine soziale Spaltung mit bedrohlichen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. All das muss einer nächsten Bundesregierung mehr wert sein.

Hasselfeldt: Am sozialen Sektor zu sparen, ist ein großer Fehler und kommt die Gesellschaft letztlich viel teurer zu stehen. Soziale Einrichtungen sind Keimzellen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, unter anderem dank des ehrenamtlichen Engagements vieler Menschen. Wir müssen in die Angebote für Menschen in schwierigen Lebenslagen investieren. Damit meine ich von Armut bedrohte, aber zum Beispiel auch geflüchtete Menschen. Natürlich wissen auch wir von den Zwängen der Haushaltslage. Kürzungen im sozialen Sektor führen jedoch zu zahlreichen gravierenden Folgeproblemen und wirken sich negativ auf die gesamte Gesellschaft aus.