Für den Evangelischen Bundesfachverband Existenzsicherung und Teilhabe (EBET) und seinen Vorsitzenden Jens Rannenberg ist klar: Auch ein erweiterter sozialer Wohnungsbau bietet selten Lösungen für wohnungslose Menschen. „Sie sind die am meisten diskriminierte Gruppe von Bewerbern um Wohnungen“, sagt er im Interview mit epd sozial. Deshalb brauche es für diese Klientel eine Wende in der Wohnungsbaupolitik. Erste Ansätze zur Hilfe gebe es bereits.
Berlin (epd). Jedes Jahr fallen bundesweit Zehntausende bezahlbare Wohnungen aus der Sozialbindung herausfallen. Und er Neubau günstiger Wohnungen stockt. Die dramatische Folge ist, dass wohnungslose Menschen es noch schwerer haben, auf dem Markt eine Wohnung zu finden, sagt Jens Ranneberg. Ziel müsse es daher sein, private Mieter dazu zu bringen, mehr Wohnungen an Menschen zu vermieten, die auf der Straße leben. Dazu brauche es monetäre Anreize. Bewährte Modelle gebe es bereits, so der Verbandschef. Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Der Bestand an Sozialwohnungen sinkt weiter, nach Schätzungen fehlen schon heute 800.000 bezahlbare Wohnungen. Bei der Zahl der wohnungslosen Menschen in Deutschland herrscht noch immer Unklarheit. Von welcher Größenordnung gehen Sie aus?
Jens Rannenberg: Seit 2020 müssen laut Gesetz die wohnungslosen Menschen erfasst werden. Das ist schon mal ein Fortschritt. Diese Registrierung haben wir als Verband viele Jahre lang gefordert, um die Dimension fehlender Wohnungen, aber auch den Bedarf an Hilfen genau fixieren zu können. Vorher gab es nur die jährlichen Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W). Die gibt es auch noch heute. Deren Zahlen sind meist höher als die amtlichen Werte. Der Bund nennt rund 439.000 Personen, die BAG W geht von über 600.000 wohnungslosen Menschen aus.
epd: Warum liegen die Angaben so deutlich auseinander?
Rannenberg: Der Bund stützt sich nur auf die Zahlen, die die Kommunen oder die Träger über jene Menschen melden, die Hilfseinrichtungen wie Obdachlosenheime aufsuchen. Und das nur zu dem Stichtag Ende Januar. Es sind also nicht die Gesamtzahlen eines Jahres. Und es werden Menschen in der verdeckten Obdachlosigkeit nicht erfasst, die auf der Straße leben oder die, die keine Wohnung haben, aber etwa bei Freunden unterkommen. Das ist ein Phänomen, das wir gerade bei jüngeren Wohnungslosen oft sehen. Wir gehen davon aus, dass die Zahl von über 600.000 Betroffenen ziemlich nahe an der Realität ist, vermutlich aber noch etwas höher liegt.
epd: Der Wohnungsbau ist eingebrochen, die Bundesregierung scheitert an ihren hochgesteckten Neubauzielen. Wie kann es da dennoch gelingen, mehr Menschen vom Rande der Gesellschaft in eigenen Wohnungen unterzubringen?
Rannenberg: Ein schwieriges Thema. Zunächst ist festzuhalten, dass die Bundesregierung an ihrem Ziel, jährlich 400.000 Wohnungen, davon 100.000 Sozialwohnungen zu bauen, deutlich scheitert. Der Bedarf ist vermutlich doppelt so hoch, wenn man weiß, dass auch jedes Jahr bezahlbare Wohnungen aus der Sozialbindung herausfallen. Die dramatische Folge ist, dass wohnungslose Menschen es noch schwerer haben, auf dem Markt eine Wohnung zu finden. Sie sind die am meisten diskriminierte Gruppe von Bewerbern um Wohnungen.
epd: Daraus ist dann aber zu schließen, dass allein sozialer Wohnungsbau für diese Personengruppe keine unmittelbare Hilfe bedeutet?
Rannenberg: Ja, das stimmt. Diese Klientel ist die letzte, die auf dem Wohnungsmarkt zum Zuge kommt. Auch deshalb ist die Problemlösung komplex, wir wissen, dass es nicht die eine Maßnahme gibt, die Wohnungslosigkeit überwindet. Schon aufgrund knapper Kassen wird es nicht gelingen, kurzfristig das Ruder herumzureißen und speziell für diese Menschen genügend Wohnungen zu bekommen.
epd: Was könnte wohnungsbaupolitisch zumindest mittelfristig etwas Entlastung bringen?
Rannenberg: Es gibt Modelle, die auf eine Quote in der Quote setzen. Braunschweig macht das so, in der Förderung von Sozialwohnungen eine bestimmte Zahl an Wohnungen für wohnungslose Bürgerinnen und Bürger festzuschreiben. Das könnte ein Weg sein, wenn diese Regelungen von allen Bundesländern in ihrer öffentlichen Wohnraumförderung vorgeschrieben würde. Schleswig-Holstein macht das bereits. Auch Berlin macht hat in den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften ein geschütztes Marktsegment. Aber ob das funktioniert, hängt natürlich von tatsächlich realisierten Neubauten ab. Und, auch das muss man klar sehen, bei dem tatsächlichen Bedarf ist es auch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.
epd: Was müsste noch getan werden?
Rannenberg: Wir fordern schon länger, die bestehenden Notunterkünfte in den Kommunen umzuwandeln in kleine Sozialwohnungen. Denn meistens bieten diese Sammelunterkünfte keine bedarfsgerechte Unterbringung, sind oft in keinem guten Zustand und werden aus verständlichen Gründen von vielen wohnungslosen Personen gemieden.
epd: Gibt es keine Wege im bestehenden Wohnungsangebot, mehr dieser Leute unterzubringen?
Rannenberg: Doch, dann muss die Kommune bei privaten Vermietern, die ja zwei Drittel der Wohnungen in Deutschland haben, Belegungsrechte für Wohnungen sichern. Dann können sie sie speziell an wohnungslose Menschen vergeben. Doch dazu muss man den privaten Vermietern langfristige Mietzusagen geben und vielleicht noch Anreize setzen, sich darauf einzulassen, etwa durch Zuschüsse oder Versicherungslösungen bei Kosten zur Sanierung und Modernisierung. Es wäre viel gewonnen, wenn mehr private Eigentümer ihre Zurückhaltung aufgeben und ihre Wohnungen vermehrt obdachlosen Menschen vermieten würden. Denn die meisten Wohnungslosen haben einen Schufa-Eintrag, und der führt fast immer dazu, dass private Vermieter solche Bewerber gar nicht erst anschauen.
epd: Ihr Verband plädiert auch für eine Neue Wohngemeinnützigkeit? Welcher Plan steckt dahinter?
Rannenberg: Neu ist dieses Konzept nicht. Die Wohngemeinnützigkeit gab es schon mal, dann wurde sie abgeschafft unter der Regierung Helmut Kohl (CDU). Jetzt soll sie von der Bundesregierung als „Neue Wohngemeinnützigkeit“ wieder eingeführt werden. Die Idee ist, Eigentümer, die Wohnungen unter einem bestimmten Marktpreis für Menschen mit wenig Einkommen zur Verfügung stellen, steuerliche Nachlässe zu gewähren. Das ist ein Anreizmodell, das die Differenz zur Marktmiete finanziell verlässlich ausgleicht. Der Unterschied zum sozialen Wohnungsbau liegt darin, dass diese Wohnungen dauerhaft für Menschen am unteren Einkommensrand unter dem Marktpreis zur Verfügung stehen. Derzeit sehen die Bestimmungen im Gemeinnützigkeitsrecht jedoch so aus, dass dieses Modell nur für wenige ganz große gewerbliche Wohnungsunternehmen interessant wäre. Das liegt daran, dass es nur eine steuerliche Förderung gibt. Ganz anders wäre das, wenn es auch noch Investitionszuschüsse gäbe.
epd: Neu ist der Ansatz der sogenannten Versicherungslösung ...
Rannenberg: Wir haben diesen Ansatz als EBET gemeinsam mit der Ecclesia-Versicherung entwickelt. Rund zwei Drittel aller Wohnungen in Deutschlandwerden von privaten Wohneigentümern mit bis zu zehn Wohnungen vermietet. Versichert werden die Risiken des Mietausfalls in einem bestimmten Zeitraum. Und abgesichert wird auch das Risiko der Instandhaltung. Das ist das zweite Standbein dieses Modells. Denn es gibt das hartnäckige Vorurteil, dass Wohnungslose aufgrund ihrer oft starken psychischen Belastungen nicht in der Lage seien, ihre Wohnung vernünftig zu nutzen. Es gibt solche Fälle, ganz klar. Aber das betrifft nur eine kleine Minderheit. Und wir haben in dem Modell auch noch eine private Haftpflichtversicherung als Option eingebaut, die die Menschen dann später selbst übernehmen können. Wir haben mit dem Projekt in diesem Jahr begonnen. Wir sind sicher, wenn das bundesweit genutzt würde, ließe sich eine nennenswerte Zahl an privaten Wohnungen für diese Zielgruppe erschließen. In der Dachstiftung Diakonie in Gifhorn werden wir rund 70 Wohnungen entsprechend versichern.
epd: Sie fordern, dass die Länder bei den Kriterien zur Wohnraumversorgung bei Neubauten wohnungslose Personen explizit benennen. Was wäre damit gewonnen?
Rannenberg: Wenn Kommunen bei der Ausweisung von Wohngebieten spezielle Quoten für die Unterbringung von Wohnungslosen vorgeben würden, würde der benötigte Wohnraum dann auch da sein. Die Kommunen haben diese Möglichkeiten. Aber auch hier gibt es leider hohe Hürden. Sie müssten dann einen Träger finden, der nach diesen Vorgaben baut. Und das ist bei den hohen Baukosten, der Inflation und den hohen Zinsen nicht einfach. Aber dass das geht, haben wir in Braunschweig gezeigt und werden das auch in Gifhorn tun, wo wir ein Grundstück gekauft haben und dort im Abstimmung mit der Stadt Wohnungen für Obdachlose bauen werden. Das werden aber auch nur acht oder neun Wohnungen sein, damit ist der Bedarf noch nicht gedeckt.
epd: Ja, aber es klingt nach einem gangbaren Weg ...
Rannenberg: Ich meine, wichtig ist, dass man vor Ort überhaupt erst mal ein Problembewusstsein hat, hier einen Ansatz zu finden, um diese benachteiligtem Mitbürger mit Wohnraum zu versorgen. Und die Kommunen sollten mehr tun, um Wohnungsverluste zu bekämpfen und dazu ihre Angebote bei der Prävention ausbauen. Dazu müsste es aus unserer Sicht flächendeckend Fachstellen gegen Wohnungsverlust geben, am besten dauerhaft gefördert vom Land oder auch vom Bund über Zuweisungen an die Länder. Und genau daran hapert es leider noch. Gut wäre es, vom Bund über die Länder zumindest eine Anschubfinanzierung für diese Fachstellen zu bekommen. Das wird derzeit in den Fachgremien diskutiert, doch noch ist nicht klar, ob es dazu die politischen Entscheidungen geben wird.