
Menschen, die an dem Messie-Syndrom leiden, haben den Drang, Dinge anzuhäufen, was in Chaos und Vermüllung endet. Eine Aufräumexpertin erklärt, wieso die Krankheit schambehaftet ist und wie Angehörige damit umgehen können.
Zürich (epd). Aufräum-Coach Esther Schippert arbeitet seit 2016 mit Menschen zusammen, die an dem Messie-Syndrom leiden. Die Zürcherin hat einen Verein gegründet, in dem auch Angehörige Hilfe finden können. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst erklärt sie, wie einer ihrer Besuche in einer Messie-Wohnung abläuft. Die Fragen stellte Stefanie Unbehauen.
epd sozial: Frau Schippert, Sie arbeiten seit acht Jahren mit Menschen zusammen, die an dem Messie-Syndrom leiden. Wie gehen Sie vor?
Esther Schippert: Der erste Kontakt ist immer sehr vorsichtig. Betroffene schreiben mich an, dann telefonieren wir und anschließend wird ein erstes Treffen vereinbart. Wichtig ist, dass die Chemie stimmt. Vertrauen ist sehr wichtig für die Zusammenarbeit. Denn das Thema ist nach wie vor schambehaftet.
epd: Woran liegt das Ihrer Einschätzung nach?
Schippert: Es gibt viele Vorurteile. Betroffene seien faul, bockig oder gar sozial schwach. Doch das stimmt nicht. Ich weiß aus meiner Erfahrung als Stress- und Resilienz-Coach, dass sich das Messie-Syndrom durch alle Gesellschaftsschichten zieht. Es sind häufig sehr intelligente Menschen, teilweise Akademiker mit Doktortitel. Es kann jeden treffen. Vom Kind im Kindergarten bis hin zur 80-jährigen Seniorin im Altenheim.
epd: Welche Gründe stecken hinter dem Symptom?
Schippert: Hinter dem zwanghaften Horten stecken meist ganz andere Gründe als Faulheit. Meine Klienten geben sich damit Sicherheit und Liebe. Es geht darum, ein Loch zu stopfen. Auslöser für den Sammelzwang sind oft Traumata. Da gibt es zum Beispiel das Kind, dessen Mutter ein zweites Baby bekommen hat und das sich nun übersehen fühlt. Oder die Ehefrau, die um ihren verstorbenen Mann trauert und sich von seinen Klamotten nicht trennen kann. Das Horten ist wie ein Schutzwall, eine Burg.
epd: Tritt das Messie-Syndrom häufig auch in Kombination mit anderen psychischen Erkrankungen auf?
Schippert: Ja, das Messie-Syndrom ist meist nur die Spitze des Eisbergs. Oft liegen andere Erkrankungen vor und der Sammelzwang ist nur die Folge. Dabei handelt es sich vorwiegend um Störungen wie Burnout, Depressionen, Angst, Kaufsucht oder Demenz im Alter. Zudem haben Betroffene meist einen geringen Selbstwert. Viele wollen sich mit ihren Problemen nicht auseinandersetzen. Manche schlafen auf dem Sessel, weil sie keinen Platz mehr im Bett haben. Sie gewähren sich selbst sehr wenig Raum. Dahinter steckt häufig der Gedanke: „Ich habe nicht viel verdient, ich bin nichts wert.“
epd: Wann wenden sich Betroffene an Sie und suchen sich Hilfe?
Schippert: Betroffene wenden sich häufig erst an mich, wenn es gar nicht mehr anders geht. Sie schieben das auf, weil sich die meisten so schämen. Wenn zum Beispiel die Hausverwaltung kommt, ein Handwerkerbesuch ansteht oder ein Umzug. Manche kommen danach nie wieder oder melden sich erst wieder, wenn es gar nicht mehr geht, manche warten bis zur Zwangsräumung. Viele haben Angst davor, dass irgendwann die Behörde vor der Tür steht und ihnen die Kinder wegnimmt. Sie stellen sich täglich die Frage: Was passiert, wenn das rauskommt?
epd: Wie kann man sich ein Treffen in der Wohnung eines Messies vorstellen?
Schippert: Wenn ich zum ersten Mal dorthin komme, höre ich erst einmal zu. Die Klienten dürfen mir alles erzählen, was sie möchten. Die Tür für eine Fremde zu öffnen, kostet bereits viel Überwindung. Beim ersten Treffen passiert meist noch nichts. Ich schaue dann erstmal, lasse mir erzählen, wie das passiert ist und gehe dann wieder. Dann melden sich Klienten häufig Wochen lang nicht mehr, haben Angst, dass ich Dinge wegwerfe, die ihnen wichtig sind. Doch das tue ich nicht. Ich mache nichts allein, sondern alles mit den Klienten zusammen. Es ist wichtig, dass die Klienten mit dabei sind und einen Prozess durchlaufen.
epd: Auch für Angehörige keine einfache Situation.
Schippert: Ja, das zwanghafte Horten belastet nicht nur Messies selbst, sondern auch ihre Angehörigen. Nichtbetroffene, die mit Betroffenen zusammenleben, haben oft Schwierigkeiten, sich abzugrenzen oder wissen nicht, wie das geht. Aus diesem Grund habe ich im vergangenen September einen Verein für Messie-Betroffene und ihre Angehörigen gegründet. Bei offenen Treffen können sich Angehörige informieren und bei einem Spaziergang mit mir, dem sogenannten „Walk and Talk“, ihre Situation schildern. Es gibt leider wenig Ansprechpartner im deutschsprachigen Raum. Ein weiteres Problem ist die Finanzierung. Häufig werde ich von Institutionen wie Altenheimen und Psychiatrien angeschrieben, dann werden wiederum Stiftungen kontaktiert, die die Gelder bewilligen sollen. Der Prozess dauert häufig so lange, dass die Klienten abspringen. Die Leute, die wirklich Hilfe brauchen, sollten diese sofort erhalten und nicht erst in einem halben Jahr.