Wie sehen die Mitgliedsverbände der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtsverbände in die nahe Zukunft? Was erwarten sie von der neuen Bundesregierung? epd sozial hat Vorsitzende, Präsidenten und Direktoren gefragt. Im zweiten Teil der Interviewserie antworten Caritaspräsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa und Diakoniepräsident Rüdiger Schuch.
Frankfurt a.M. (epd). Die Ampel-Regierung ist Geschichte, und ob vorgelegte Gesetzentwürfe vor der Wahl den Bundestag passieren werden, ist völlig offen. Viele Reformen, die die Sozialbranche mitunter seit Jahren fordern, liegen auf Eis. Zum Teil ist der Frust der Verbände groß, denn viele Probleme werden nicht kleiner, im Gegenteil. Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Kindergrundsicherung, Schutz von Frauen vor Gewalt, Pflegefinanzierung oder Reformen bei der Vergütung von Betreuern: In welchem sozialpolitischen Bereich ist das Scheitern von angekündigten Reformen besonders bitter?
Eva Maria Welskop-Deffaa: In der Sozialpolitik hat die Ampel sich besonders schwergetan, ihre unterschiedlichen Vorstellungen mit tragfähigen Kompromissen zu überbrücken. In der Pflegepolitik gab es im Koalitionsvertrag interessante Ansätze, doch anstatt Lösungen umzusetzen, herrschte Stillstand. Keine der geplanten Reformen brachte es zur Reife, tragfähige Kompromisse blieben aus. Besonders bitter: Der Pflegevorsorgefonds wurde geplündert - eine unnötige Belastung der Generationensolidarität. Für die faire Gestaltung der sogenannten 24-Stunden-Pflege kam nicht einmal die Vorbereitung eines Modellprojektes voran; die dringend notwendige Neuregulierung von ambulanter und stationärer Pflege blieb auf der Strecke. Mit dem vorzeitigen Ampel-Aus scheiterten am Ende noch zwei wichtige Vorhaben, die die Bilanz hätten aufbessern können - das Pflegekompetenzstärkungs- und das Pflegeassistenzausbildungsgesetz.
Rüdiger Schuch: Reformbedarf gibt es an vielen Stellen. Ganz zentral ist die Reform der Pflege. Die Situation ist für die Pflegebedürftigen und ihre An- und Zugehörigen untragbar: Die Eigenanteile für einen Heimplatz steigen immer weiter. Im ambulanten Bereich sieht es nicht besser aus. Unsere Dienste für die häusliche Pflege leiden vielerorts unter Personalmangel und finanziellen Schwierigkeiten. Sie müssen Patienten und Patientinnen abweisen oder vertrösten. Dabei steigt die Zahl der Pflegebedürftigen immer schneller. Und die Belastung für die pflegenden Angehörigen wird immer größer. Zugleich wird es immer schwieriger, neue Arbeitskräfte zu bekommen. Das geht auf die Knochen der Beschäftigten. Wir sitzen auf einem Pulverfass.
epd: Auch wenn viele Reformansätze wohl gescheitert sind, bleiben die Probleme in der Pflege ebenso weiter bestehen wie der Fachkräftemangel, die zunehmende Armut und das Fehlen bezahlbarer Wohnungen. Für welche dieser sozialpolitischen Herausforderungen wird auch die künftige Bundesregierung schnell Lösungen aufzeigen müssen?
Welskop-Deffaa: Pflege- und Rentenpolitik stehen ganz oben auf der sozialpolitischen Agenda. Denn der demografische Buckel naht. Damit die Reformen gelingen, braucht es eine grundlegende Neuvergewisserung über das ihnen zugrunde liegende Sozialstaatsverständnis. Wir brauchen einen vorsorgenden Sozialstaat für alle, der die Sozialversicherungen weiterentwickelt, als das, was sie sind: gesetzlich verpflichtende beitragsbasierte Vorsorge für wesentliche Lebensrisiken. Beiträge und Leistungen stehen in einem unmittelbaren Verhältnis. Aus Minibeiträgen in die Pflegeversicherung lassen sich keine Vollkasko-Ansprüche ableiten. Umgekehrt muss eine Altersrente nach vielen Beitragsjahren spürbar höher liegen als die Grundsicherung im Alter derjenigen, die keine Beiträge gezahlt haben. Eine schnelle Lösung sollte es nach der Wahl für die Altersvorsorge der Selbstständigen geben. Seit Jahren ist ihre Sozialversicherungsfreiheit zum Altersarmutsrisiko geworden.
Schuch: Neben einer großen Pflegereform sehen wir auch Reformbedarf bei den Jüngsten. In den Kitas fehlt es an Geld und Fachkräften. Frühkindliche Bildung ist ein Schlüssel, um auch Kindern aus einkommensarmen Elternhäusern gleiche Startchancen für den persönlichen und beruflichen Erfolg zu verschaffen. Eine zentrale Rolle muss eine gute Integrationspolitik für zugewanderte Menschen spielen. Die Debatte um Zuwanderung und Flucht reduziert sich allzu oft auf die Beschränkung von Zuwanderung. Herausforderungen und Problemen müssen benannt werden, aber der Fokus muss sich darauf richten, dass Migration unser Land wirtschaftlich, kulturell und demografisch weiterentwickelt. Integrationskurse, Asylverfahrensberatung und qualifizierte Migrationsberatung sind für das individuelle Ankommen unverzichtbar. Eine schnelle und gute Integration in den Arbeitsmarkt fördert gesellschaftliche Teilhabe und entlastet auch unser Sozialsystem. Wir erwarten eine gute, solide, lösungsorientierte Sozialpolitik, die sich an den vielfältigen Lebenslagen der Menschen orientiert und für Unterstützung, Beratung und Begleitung sorgt, dort wo sie gebraucht wird. Von zentraler Bedeutung sind Investitionen in Bildung, Wohnraum, Gesundheitssysteme, soziale Infrastruktur und gesellschaftlichen Zusammenhalt.
epd: Die Wirtschaft schwächelt, einen Haushalt 2025 gibt es noch nicht, bislang stehen die Zeichen überall auf Sparen - und die Schuldenbremse gibt es auch noch. Betroffen vom Rotstift wären viele soziale Bereiche, die Integrationskurse ebenso wie die Freiwilligendienste. Wo also soll das Geld herkommen, das es braucht, um die soziale Infrastruktur zumindest zu sichern und wo wäre es am besten investiert?
Schuch: Investitionen in gute und für alle zugängliche Förder- und Bildungsangebote sind nachhaltige Investitionen in die Zukunft. Sie unterstützen Menschen dabei, eine gute Perspektive für ihr Leben zu entwickeln. Und sie fördern den sozialen Frieden, der für den Wohlstand unseres Landes unerlässlich ist. Wenn zum Beispiel Migrantinnen oder Menschen in Armut durch gute Fördermaßnahmen in Arbeitsverhältnisse kommen, trägt dies viel zur Steuerbasis des Landes bei. Wir fordern daher die künftige Bundesregierung auf, Geld in die Hand zu nehmen, um Menschen mit schlechteren Startbedingungen zu helfen, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Dazu brauchen wir mehr Investitionen in die soziale Infrastruktur. Eine Reform der Schuldenbremse und eine gerechtere Steuerpolitik, die zum Beispiel eine höhere Erbschaftssteuer für besonders Vermögende vorsieht, wären richtige Maßnahmen.
Welskop-Deffaa: Wirtschaftswunder haben sich in Deutschland immer wieder der Tatsache verdankt, dass Sozialpolitik ein tragfähiges Fundament für wirtschaftliche Neuanfänge gelegt hat. Das gilt für das Kurzarbeitergeld der Bundesagentur für Arbeit ebenso wie für die Rehamaßnahmen der Rentenversicherung. Sie und viele andere Sozialversicherungsleistungen erhalten und stärken die Leistungsfähigkeit der Beschäftigten und der Betriebe. Die jetzt drohenden Einschnitte bei Freiwilligendiensten und Integrationskursen gefährden mit minimalem Einspareffekt erfolgreiche Strukturen, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt unendlich wertvoll sind. Wer bei der sozialen Infrastruktur spart, zahlt langfristig den doppelten Preis - in Form von Krisen und wachsender Ungleichheit. Ich erinnere noch einmal an die Finanzierungslogik wesentlicher Sozialausgaben: Die Sozialversicherungen speisen sich zuallererst aus Beiträgen, also aus Konsumverzicht der Versicherten. Die häufig genährte Erwartung, vermeintlich versicherungsfremde Leistungen sollten großzügig aus Staatszuschüssen finanziert werden, sollte in Zukunft nicht weiter befeuert werden, um unter den Vorzeichen knapper Kassen die Akzeptanz des Systems nicht zu gefährden.