AWO und Paritätischer: Kinderarmut bleibt auf der Tagesordnung
s:37:"Joachim Rock (li.) und  Michael Groß";
Joachim Rock (li.) und Michael Groß

Wie sehen die Mitgliedsverbände der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtsverbände in die nahe Zukunft? Was erwarten sie von der neuen Bundesregierung? epd sozial hat Vorsitzende, Präsidenten oder Direktoren gefragt. Im dritten und letzten Teil der Interviewserie antworten Michael Groß, der Präsident der Arbeiterwohlfahrt (AWO), und Joachim Rock, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands.

Frankfurt a.M. (epd). Die Ampel-Regierung ist Geschichte, und ob vorgelegte Gesetzentwürfe vor der Wahl den Bundestag passieren werden, ist völlig offen. Viele Reformen, die die Sozialbranche mitunter seit Jahren fordern, liegen auf Eis. Zum Teil ist der Frust der Verbände groß, denn viele Probleme werden nicht kleiner, im Gegenteil. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Die Ampel-Regierung ist Geschichte, und ob noch vorgelegte Gesetzentwürfe den Bundestag passieren werden, ist völlig offen. Kindergrundsicherung, Schutz von Frauen vor Gewalt, Pflegefinanzierung oder Reformen bei der Vergütung von Betreuern: In welchem sozialpolitischen Bereich ist das Scheitern von angekündigten Reformen besonders bitter?

Michael Groß: Wenn man nach der größten verpassten Chance sucht, kommen leider einige ungehaltene Versprechen aus dem Koalitionsvertrag infrage. Denn obgleich die Ampel beim Bürgergeld, beim Wohngeld oder bei der Erhöhung des Kindersofortzuschlags notwendige und wichtige Schritte gegangen ist: Eine echte Fortschrittskoalition im Sinne von sozialem Fortschritt war sie nicht. Aktuell kommt einem bei diesem Thema zuallererst das Ausbleiben einer echten Pflegereform in den Sinn: Seit Jahren steigen die Beiträge und Eigenanteile, die Menschen leisten müssen, um gute Pflege zu erhalten. Die Pflegeversicherung ist zu einer Rumpf-Versicherung verkommen, die man nicht einmal mehr als Teilkasko-Versicherung bezeichnen kann. Was wir bräuchten, um Altersarmut zu bekämpfen und gute Pflege zu gewährleisten, wäre aber eine Vollversicherung, an der alle sich beteiligen.

Joachim Rock: Besonders bitter ist das Scheitern der Bundesregierung dabei, mit der Einführung von Bürgergeld und Kindergrundsicherung eine bedarfsgerechte und unbürokratische Neuordnung der Grundsicherung vorzunehmen. Auch die Neubestimmung des Existenzminimums für Kinder blieb auf der Strecke. Die Bundesregierung hat es versäumt, den Sozialstaat gleichzeitig leistungsfähiger und leichter zugänglich zu machen. Sie hat sich im Irrgarten des Mit-, Neben- und Gegeneinanders von Gesetzen, Verordnungen und Zuständigen verlaufen und verstrickt.

epd: Auch wenn viele Reformansätze wohl gescheitert sind, bleiben die Probleme etwa in der Pflege ebenso weiter bestehen wie der Fachkräftemangel, die zunehmende Armut und das Fehlen bezahlbarer Wohnungen. Für welche dieser sozialpolitischen Herausforderungen wird auch die künftige Bundesregierung schnell Lösungen aufzeigen müssen?

Rock: Die ungelösten Probleme bleiben auf der Tagesordnung, neue treten hinzu. Die Regelungen zur Mietpreisbremse laufen zum Jahresende 2025 aus, die geplante Verlängerung hat bislang keine Mehrheit. Die steigenden Wohnkosten sind der Kern einer neuen sozialen Frage. Sie bleibt bisher unbeantwortet, viele Mieterinnen und Mieter schauen sorgenvoll in die Zukunft. Auch das Rentenniveau ist nur noch 2025 bei mindestens 48 Prozent abgesichert. Sinkt es weiter, wird die Rente zwar nominell nicht geringer, sie wird aber immer weniger Wert haben. Das beträfe etwa 26 Millionen Renten. Rentnerinnen und Rentner würden von der Einkommensentwicklung abgehängt.

Groß: Neben der Reform der Pflegeversicherung muss eine neue Bundesregierung dringend am Thema Kinderarmut dranbleiben. Mit dem Versuch, eine Kindergrundsicherung zu schaffen, ist die Ampel zwar gescheitert. Aber sie hat ein Debattenfenster geöffnet, das viel Aufmerksamkeit erzeugt hat. Hier gilt es nun, schnell und pragmatisch weiterzuarbeiten, und zwar mit tragfähigen Konzepten. Als Arbeiterwohlfahrt fordern wir unter anderem, die Kinderfreibeträge für Betreuung, Erziehung und Ausbildung für wohlhabende Haushalte zu senken. Mit den bis zu 3,5 Milliarden Euro, die man dadurch einsparen würde, könnte sehr einfach der Regelsatz für Kinder im Bürgergeldbezug erhöht werden. Wirksame, umsetzbare und verteilungspolitisch gerechte Maßnahmen wie diese muss eine neue Regierung auf den Weg bringen.

epd: Die Wirtschaft schwächelt, einen Haushalt 2025 gibt es noch nicht, bislang stehen die Zeichen überall auf Sparen - und die Schuldenbremse gibt es auch noch. Betroffen vom Rotstift wären viele soziale Bereiche, die Integrationskurse ebenso wie die Freiwilligendienste. Wo also soll das Geld herkommen, das es braucht, um die soziale Infrastruktur zumindest zu sichern und wo wäre es am besten investiert?

Groß: Um handlungsfähig zu werden und soziale Gerechtigkeit zu ermöglichen, muss der Staat zunächst seine Einnahmenseite verbessern. Vermögen und hohe Einkommen müssen stärker besteuert werden, statt bei Ausgaben für den Zusammenhalt zu sparen. Darüber hinaus muss eine neue Bundesregierung die Schuldenbremse abschaffen. Denn Investitionen in die soziale Infrastruktur und soziale Sicherheit sind Zukunftsinvestitionen und dürfen nicht buchstäblich ausgebremst werden. Sollte nur eine Reform der Schuldenregel angegangen werden, dann muss diese eine klare „goldene Regel“ für soziale Investitionen beinhalten.

Rock: 2025 ist ein Jahr der Entscheidung für die Wohlstands- und Sozialstaatsentwicklung in Deutschland. Mit über einer Billion Euro wird zwar viel verteilt, aber zu wenig umverteilt. Die Kinder besonders einkommensstarker Familien sind dem Staat immer noch deutlich mehr wert als andere, wie man an den gegenüber dem Kindergeld erhöhten Vorteilen durch Steuerfreibeträge für einkommensstarke Familien sieht. Dass die Alterssicherung von Pensionären deutlich besser finanziert wird als von Rentnerinnen und Rentnern, ist immer weniger zu rechtfertigen. Heute stammen nur noch 70 Prozent der Einkommen aus Arbeit, 30 Prozent stammen aus anderen Einkommen, etwa Kapitalerträgen und Vermietungen. Letztere werden kaum zur Finanzierung des Sozialstaates herangezogen, das verstärkt Ungleichheit zusätzlich. Das müssen wir ändern, weil die Versorgung mit notwendigen Diensten für Bildung und Erziehung, für Pflege- und Sorgearbeit, für Integration und Beschäftigungsförderung akut gefährdet ist. In diesen Bereichen bevorzugt auf gemeinnützige Angebote zu setzen, wäre ein wichtiger Beitrag zu einer nachhaltigen Sozialpolitik.