Arbeitgeberverband: Investitionsstau ist systembedingt
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Martina Pollert und Christian Westermann

Nur wenige Bundesländer fordern aus Steuergeld Investitionen in die ambulanten Pflege. Doch die, die es wie NRW tun, geben längst nicht genug Geld, klagen die Träger. Martina Pollert und Christian Westermann von der Ruhrgebietskonferenz Pflege erläutern in ihrem Gastbeitrag für epd sozial, zu welchen Problemen das führt. Sie beklagen einen massiven Investitionsstau, der systembedingt sei.

Nordrhein-Westfalen zählt zu den wenigen Bundesländern, in denen es für ambulante Dienste eine Förderung für Investitionen in der ambulanten Pflege gibt. Doch das ist für die betroffenen Dienste im Land Segen und Fluch zugleich. Nicht selten ist zwar zu hören, dass die Pflegedienste doch froh sein könnten, „überhaupt etwas Geld zu bekommen“. Doch was ist, wenn dieses Etwas nicht ausreicht und die Dienste eben keine weitere Möglichkeit haben, um die Lücke zur Refinanzierung ihrer Investitionskosten zu schließen? Zu den Folgen dieses Problems später mehr.

Diese Investitionskostenförderung ist pauschaliert und seit ihrer Einführung vor fast 30 Jahren auf 2,15 Euro pro Leistungsstunde festgelegt. Grundlage für deren Berechnung sind die zu Lasten der Pflegekassen beziehungsweise Beihilfestellen abgerechneten Leistungen des jeweiligen Vorjahres. Diese Pauschale ist noch nie angepasst worden. Inzwischen sind die Preise jedoch um 70 Prozent gestiegen. Eine Förderung, die diese Preissteigerung adäquat abbilden würde, müsste demnach heute bei knapp 3,70 pro Leistungsstunde liegen.

„Dringender Handlungsbedarf“

Für die ambulanten Dienste besteht längst ein dringender Handlungsbedarf, wenn ein systembedingter Investitionsstau verhindert werden soll. Die Kostensteigerungen für Mieten, Fahrzeuge und nicht zuletzt die Anschaffungskosten für die allseits geforderte Digitalisierung werden nicht in ausreichender Höhe finanziert.

Ein Beispiel aus der betrieblichen Praxis macht diese Lücke greifbar. Anfang des Jahrhunderts hat ein Opel Corsa noch 15.000 DM gekostet. Heute schlägt die Anschaffung eines aktuellen Modells vergleichbarer Typenklasse mit mehr als 20.000 Euro zu Buche. Hinzu kommt, dass kleine Fahrzeuge kaum noch angeboten werden, was zusätzlich höhere Anschaffungskosten für sogenannte Kleinwagen bedeutet.

Investitionen zählen zu den wichtigsten Aufgaben eines Unternehmens in Sachen Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit. In einem regulierten Markt wie der Pflege ist das gesetzlich reglementiert und muss mit Kostenträgern oder Leistungsempfängern ausgehandelt werden. Grundlage dafür ist der § 82 SGB XI. Darin wird geklärt, was als Investition zu verstehen ist. Für die ambulante Pflege sind darunter in erster Linie Mieten, Fuhrpark und nicht zuletzt „sonstige Anlagegüter“ zu verstehen. Darunter finden sich unter anderem die dringend notwendigen digitalen Anwendungen zur Unterstützung der Pflegearbeit.

Mieten um 38 Prozent, Fuhrparkkosten um 30 Prozent gestiegen

Ein konkretes Beispiel aus einem unserer Mitgliedsunternehmen zeigt, wo die Reise allein im vergangenen Jahr hingegangen ist: Die Mieten sind um 38 Prozent, die Kosten für den Fuhrpark um 30 Prozent und die Ausgaben für IT-Anschaffungen um 26 Prozent gestiegen.

Die ganze Dimension der oben beschriebenen Lücke bei der Refinanzierung der investiven Kosten wird an Zahlen der Diakoniestationen Essen deutlich. Das Unternehmen versorgt an sechs Standorten mit etwa 100 Autos 1.300 Kunden im Stadtgebiet. Im Jahr 2004 hat das Unternehmen gut 300.000 Euro Investitionskosten erstattet bekommen. Im Jahr 2024 ist dieser Betrag auf rund 170.000 Euro geschrumpft. Wenn man die Inflation mit in diese Betrachtung einbezieht, hat sich die Investitionskostenförderung seit Anfang des Jahrhunderts mehr als halbiert.

Diese Entwicklung wird vor dem Hintergrund des aktuellen Innovations- und Investitionsdrucks auf die Pflege noch einmal besonders dramatisch. Wo sollen denn die Geldmittel für die ständig geforderte Digitalisierung oder die Umstellung der Fuhrparks auf E-Autos herkommen? Die dazu aufgelegten Förderungen sind entweder nicht hoch genug oder werden sogar kurzfristig ganz gestrichen.

Mehrere Bundesländer gehen anders vor

Der Blick über die Landesgrenzen hinaus zeigt, dass es durchaus Lösungen gibt. Allerdings gehen diese überwiegend zu Lasten der Betroffenen. So können in Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz die Unternehmen den Betroffenen die Investitionskosten gesondert in Rechnung stellen. Dabei fallen dann zum Beispiel zwischen 1,50 und 1,90 Euro an zusätzlichen Kosten pro Einsatz an. Das summiert sich schnell auf knapp 100 Euro pro Monat, die von den Betroffenen als Eigenanteil zu bezahlen sind.

In NRW scheint diese Lösung durch die Landesförderung ausgeschlossen zu sein. In der Begründung zur „Verordnung zur Ausführung des Alten- und Pflegegesetzes Nordrhein-Westfalen“ steht, dass der Aufwendungszuschuss unabhängig von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit für alle Pflegebedürftigen gezahlt wird und es sich um eine 100-prozentige Förderung der von den ambulanten Diensten gegenüber den Pflegebedürftigen erbrachten Leistungen nach dem SGB XI handelt, (…). Es wird als Fördervoraussetzung klargestellt, dass lediglich solche Einrichtungen förderberechtigt sind, die den Pflegebedürftigen darüber hinaus keine weiteren Aufwendungen in Rechnung stellen.

Juristische Prüfung läuft

Wir als Ruhrgebietskonferenz Pflege lassen die Rechtmäßigkeit dieser Beschränkung aktuell prüfen. Schließlich steht im § 82 (3) SGB XI: Soweit betriebsnotwendige Investitionsaufwendungen nach Absatz 2 Nr. 1 oder Aufwendungen für Miete, Pacht, Erbbauzins, Nutzung oder Mitbenutzung von Gebäuden oder sonstige abschreibungsfähige Anlagegüter nach Absatz 2 Nr. 3 durch öffentliche Förderung gemäß § 9 nicht vollständig gedeckt sind, kann die Pflegeeinrichtung diesen Teil der Aufwendungen den Pflegebedürftigen gesondert berechnen. Von einer vollständigen Deckung der Investitionskosten kann schließlich bei einer Pauschale, die seit 30 Jahren nicht angepasst worden ist, nicht die Rede sein.

Alternativ zur Erhöhung der Pauschale auf inflationsbereinigte 3,70 Euro wäre auch denkbar, die Investitionskostenpauschale auf die gesamte Bilanzsumme aller SGB XI-Leistungen aufzuschlagen. Leistungen, die über den Rahmen des § 36 SGB XI von den Versicherten selbst getragen werden, Leistungen an private Selbstzahler, Leistungen, die vom Sozialamt finanziert werden, Leistungen, die privat aus Pflegegeld finanziert wurden, Leistungen an Nicht-Pflegeversicherte und Leistungen auf Grundlage freiwilliger Zusatzversicherungen fließen nicht in die Berechnungsgrundlage der Investitionskostenförderung ein. Mit der hier angedachten Praxis würde darüber hinaus das kostspielige Testat durch einen Wirtschaftsprüfer und jede Menge Antragsbürokratie wegfallen. Kurzfristig aber müsste mindestens eine Dynamisierung der Förderung in Höhe der Inflationsrate vereinbart werden. Wobei dann das Basisjahr mit echten Investitionskostenhöhen zu benennen wäre.

Die oben beschriebene Problematik ist ein Beleg dafür, dass eine grundlegende Neuaufstellung der Finanzierung von Pflegeleistungen längst überfällig ist. Wie in vielen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft droht in der ambulanten Pflege ein Investitions- und damit Innovationsstau. Die Lösungsmöglichkeiten in Zeiten knapper öffentlichen Kassen sind scheinbar begrenzt. Am Ende werden wohl - wie aktuell in vielen Bereichen der Pflege - die Betroffenen die Zeche zahlen. Entweder durch höhere Eigenanteile oder durch Kürzungen bei der Inanspruchnahme von Pflegediensten. Das wird wiederum zu finanziellen Mehrbelastungen der Angehörigen und ihrer Familien führen.

Martina Pollert ist Geschäftsführerin der Diakoniestationen Essen gGmbH. Christian Westermann ist Geschäftsführer der ENGEL vonne RUHR Ambulante Pflege GmbH.