Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus, Amen.
Die Geschichte des Grundgesetzes gründet in den Untaten, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland über die Welt gingen. Sie ist ohne das vollständige Versagen über das, was Recht von Unrecht trennt, nicht verständlich. An diesem Tiefpunkt entstanden im Grundgesetz Grundlagen und Ordnungen, die für Gesetze und das Recht einen Rahmen setzten. Diese Grundlagen sind über 75 Jahre in außerordentlicher Weite interpretiert worden und blieben im Kerngehalt doch beständig. Ein solches Ringen über grundlegende Haltungen des menschlichen Zusammenlebens durchzieht auch die biblische Literatur, die Hebräische Bibel und das Neue Testament. Im Anfang stehen Gott und der Mensch. Auch die Präambel des GG kommt ohne diese Dualität nicht aus. Auch wenn der Gott im Grundgesetz nicht Adonai des Judentums, Christus des Neuen Testaments oder Allah der Muslime ist, so erinnert der Begriff Gott im Grundgesetz an die begrenzten menschlichen Fähigkeiten. »Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen…«. Der Mensch erschafft nicht allein aus sich heraus das bleibend Gute, die paradiesischen Zustände. Das GG erinnert den Menschen sowohl an die Größe seiner Aufgabe als auch an die Begrenztheit seiner Möglichkeiten. Manche Bescheidenheit stünde unserer Welt auch heute wieder gut zu Gesicht.
Die Formel »vor Gott und den Menschen« ist keine Formel, sondern eine Dimension. Nicht nur der Mensch, nicht nur diese Zeit. Das Grundgesetz markiert eine Zukunftsdimension,1 die vielleicht bei der Abfassung überhaupt nicht so gegenwärtig gewesen ist. Dieser Text besteht in der dritten Generation. Das GG beschränkt den Anspruch nicht auf die heute lebenden Menschen, sondern fasst Verantwortung über die kommenden Generationen hinweg.
Religionen sind das Gedächtnis der Menschheit und bleiben Schulen der Demut. Vor allem beim Nachdenken über ein friedliches und freies Zusammenleben braucht es eine Signatur dessen, über den gesprochen wird: Der Mensch. Seine unantastbare Würde, das Ebenbild Gottes. Ob und wie diese Würde, die die Antwort ist aus der Entmenschlichung durch den Nationalsozialismus, auch in Zukunft als unabdingbare Voraussetzung überlebt, liegt an uns, nicht zuerst am GG.
Dieser Mensch lebt, schon gleich zu Beginn in der Bibel in Beziehungen. Wie, in welcher Weise, bestimmt nicht der Staat, sondern es wird ausgehandelt und vereinbart von den Bürgerinnen und Bürgern. Davon erzählt die Bibel. Das beschreibt das Grundgesetz. Die Voraussetzung für diese Dynamik liegt in der Freiheit des Menschen.
Wenn wir nach biblischen Analogien suchen, um uns diesem Freiheitsgedanken des Grundgesetzes zu nähern, kommen wir am Kanon der zehn Gebote nicht vorbei. Ein großer, unüberholbarer Grundlagentext, wie gerechtes und friedliches, gemeinschaftliches Leben möglich wird. Auch die zehn Gebote beginnen, was die Wenigsten wissen, mit einer Präambel zur Freiheit.
Am Anfang stehen Sätze von Gott: »Ich bin… dein Gott, weil ich dich aus dem Land Ägypten, dem Haus der Sklavenarbeit herausgeholt habe.« Der Beginn des menschlichen Lebens ist die Erfahrung der Freiheit. Das Nachdenken über den Gebrauch der Freiheit, über den gemeinschaftsgemäßen Einsatz, führt zuerst zur Einsicht: Diese Freiheit haben wir uns nicht selbst geschenkt. Sie ist uns geschenkt worden.
Unsere Zeit lebt intensiv in der Betonung dieser Freiheit und vernachlässigt dabei zunehmend die zweite Seite, das Leben in der Gemeinschaft. Luther hat über diese Frage einen seiner zentralsten Texte geschrieben: Von der Freiheit eines Christenmenschen. Sein Freiheitsbegriff wird pragmatisch formuliert: »Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.« Die erste, unbegrenzte Freiheit betrifft den inneren Menschen. Nichts in der Welt, auch nicht die Kirche, keine Partei, keine Nation, kein Mythos kann ihm diese Freiheit nehmen. Die Gedanken sind frei. Zum Zweiten aber führt bei Martin Luther dieser Gedanke zur Hingabe an den Nächsten. Christus befreit uns dazu, unseren Mitmenschen frei – »mit Lust und Liebe« – so zu begegnen, wie Er selbst den Menschen begegnet ist. Freiheit und Dienst gehören zusammen. Freiheit kann nur erfahren, wer sich binden lässt, an Gott und an den Nächsten. Eine solche »Dienstgemeinschaftskultur« kann ein Grundgesetz nicht etablieren, aber es kann ermöglichen, dass sie wächst. Während wir für die Ausweitung individueller Freiheitsansprüche heute keine Hilfsprogramme mehr etablieren müssen, plädiere ich sehr für eine soziale Pflichtzeit, wie sie Bundespräsident Steinmeier eingebracht hat.
Wie verbinden wir individuelle Selbstbestimmung und Solidarität. Wie verhalten sich Freiheit und Verantwortung zueinander und kommen in ein ausgewogenes Verhältnis? Diese Frage hat auch mit der geistigen Orientierung zu tun. Dass ein Leben in Freiheit nur gelingt, wenn mir die Freiheit des andern genauso wichtig ist wie die eigene Freiheit, ist eine anspruchsvolle Einsicht, die immer wieder neu gewonnen werden muss. An dieser Schnittstelle werden zukünftig weitere Konflikte entstehen.
Der ethische Sinn einer Grundordnung besteht gerade darin, Eigennutz und den Nutzen der Allgemeinheit, Selbstverwirklichung und das Achten auf den Mitmenschen, individuelle Freiheit und soziale Verantwortung nicht zu unvereinbaren Gegensätzen werden zu lassen. Der Leitgedanke, dass beides zusammengehört, ist tief in unseren kulturellen und religiösen Traditionen verankert. Das Gebot der Nächstenliebe, das im Christentum mit der Gottesliebe zum Doppelgebot der Liebe zusammengefasst ist, heißt bekanntlich: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Die Selbst-achtung ist hier mit der Achtung des andern unmittelbar verbunden; die solidarische Zuwendung zum Mitmenschen, so kann man auch sagen, setzt durchaus Ich-Stärke voraus und leugnet sie nicht etwa. Gerade heute ist eine Lebensform vonnöten, in der Freiheit und Verantwortung nicht als Alternativen begriffen, sondern zusammengesehen werden.
Wir haben vorhin im Gottesdienst die Seligpreisungen aus der Bergpredigt gehört. Vermutlich neben den zehn Geboten der zweite, sehr radikale Grundlagentext über das Zusammenleben in allgemeiner Form. Während die zehn Gebote noch handhabbar sind und schon früh im säkularen Recht Eingang fanden, ist es mit den Seligpreisungen schwieriger. Sie taugen, so sagen viele, überhaupt nicht für die Politik und schon gar nicht für Gesetzgebung. Dennoch wurden sie hier gelesen. War das religiöse Poesie? Träumerei? Ein Theologe, der die Bibel beschreibt, wie sie mit all ihren Geschichten versucht, die Gewalt des Menschen einzudämmen (die der Mensch sich übrigens durch das Essen vom Baum der Freiheit selbst eingebrockt hat), nimmt am Ende auch die Bergpredigt in den Blick. Seine Deutung2: Es geht der Sache nach um eine sehr weitgehende Wiederannäherung an die ursprüngliche, sehr gute Welt ohne Gewalt. Dass die Geschichte des Christentums keine Geschichte der Gewalt-losigkeit war und ist, dass sie zumindest aus der Perspektive der Opfer geradezu das Gegenteil darstellt, muss für uns dabei im Auge behalten werden.
Jesus verfährt nach dem rabbinischen Grundsatz, nach dem es gilt, einen Zaun um die Tora (Red.: die Weisung, das Gesetz) zu machen (Abot I.1), einen Zaun, der schon im Vorfeld verhindert, was Gott nicht will. Damit nicht getötet wird, wie es grundlegend zu den Alten gesagt ist, soll weit im Vorfeld, bereits beim Zorn und bei den destruktiven Worten angesetzt werden, die ihm folgen. Oh, wie fallen mir dazu populistische Reden ein, Verschwörungstheoretiker, aber auch das Geschwätz im Netz. Die Frage von außen, die selbstkritische Frage von innen, ob es einen berechtigten Grund zum Zorn gibt, ist ein Beitrag zur Zähmung von Gewalt.
Dem Bösen nicht mit den gleichen Mitteln zu begegnen, ist ein gewichtiger Beitrag zu einem zivilen Umgang miteinander. Auf der Basis der Tora und damit der biblischen Grundregeln zur Überwindung der Gewalt liegt ein Versuch vor, sich der sehr guten Schöpfung so weit wie möglich anzunähern, ohne der universalen Gewalt wieder die Chance zu geben, sie zu zerstören, ein Beitrag zu einer zivilen, humanen menschlichen Gesellschaft.
Dieses Pathos kommt für mich in einem einzigen Satz in der Präambel zum Ausdruck: Wenn die Gründungsväter und -mütter schreiben: »vom Willen beseelt« zu sein. Heute spricht niemand mehr so. Ist das Lyrik? Träumer? Es ist der tiefe menschliche Wunsch, der unserem Volk, wie allen Menschen innewohnt, innewohnen sollte: als gleichberechtigtes Glied dem Frieden der Welt zu dienen. »Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen. Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihrer ist das Himmelreich.«
Amen
Marktkirche Hannover, 26. Mai 2024
Aus epd Dokumentation 11-12/25 vom 11. März 2025:
75 Jahre Grundgesetz. Gottesdienstreihe der Evangelischen Kirche in Deutschland im Jubiläumsjahr 2024
84 Seiten / 8,50 €
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