Ethische Theologie heute
Editorial der epd-Dokumentation 10/25

Ethische Debatten handeln Lösungen in strittigen gesellschaftlichen Fragen aus. Doch sie sind noch mehr: Wenn wir in Deutschland über Schwangerschaftsabbruch, den menschengemachten Klimawandel und einen gerechten Frieden in Europa diskutieren, steht auch zur Debatte, wer wir als Gesellschaft vor dem Hintergrund unserer Geschichte sind, sein wollen und werden. In konkreten Debatten liegt die Frage nach der ganzen Lebenswirklichkeit. Trutz Rendtorff, von 1968 bis 1999 Professor für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, hat das bereits 1980 in der Einleitung seiner »Ethik« formuliert: »Die menschliche Lebenswirklichkeit realisiert sich als ein permanenter ethischer Diskurs.«

Rendtorffs Programm einer »Ethischen Theologie« versucht dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Christentum und Lebensführung seit jeher aufeinander verwiesen sind. Er reflektiert konkrete Lebensführungsfragen im Lichte christlicher Überzeugungen und umgekehrt. In diesem Sinne hat sich der Protestantismus nach 1945 mit viel Engagement in öffentliche Debatten eingebracht, seine Vorstellungen von einer geschöpflichen Welt, der Zuwendung Gottes zu den Menschen, von der Freiheit, Verantwortung und Rechtfertigung des Menschen eingespeist. Evangelische Akademien sind Ausdruck dieser teilnehmenden Zeitgenossenschaft protestantischer Theologie, Kirche und Bürgerschaft.

45 Jahre nach Rendtorffs Entwurf ist die Selbstverständlichkeit, mit der dies geschieht, fraglich geworden. Die Überzeugungen wie, wo, von wem und mit welchem Anspruch theologische Ideen und christliche Gehalte in gesellschaftliche Debatten eingebracht werden, sind heute brüchig. Gerade deshalb hat es in der protestantischen Theologie in den zurückliegenden Jahren und  Jahrzehnten eine ganze Reihe weiterer Programme gegeben, die sich an diesem Problem abarbeiten und versuchen, die öffentliche Rede der Theologie zu konzeptualisieren: Öffentliche Theologie, Öffentlicher Protestantismus oder die Figur der »Übersetzung« religiöser in säkulare Sprache.

Auch eine Ethische Theologie, wie sie Rendtorff in den frühen achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts konzipierte, muss in die veränderten Rahmenbedingungen des 21. Jahrhunderts übersetzt werden. Sie gehört auf den Prüfstand: Wie kann eine Ethische Theologie in aktuelle Debatten aussehen? Wie muss sie über die Bewahrung eigener theologischer Traditionen hinaus und jenseits theologischer Schulen weitergedacht werden? Wie lassen sich unter den Bedingungen gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwicklungen theologische Impulse in aktuellen ethischen Debatten formulieren? Und andersherum: Wie nimmt die Ethische Theologie, wie nimmt die Theologie an sich, gesellschaftliche Impulse auf und justiert sich an diesen neu?

Dies hier zusammengestellten Beiträge dokumentieren ein Symposium, das unter dem Titel »Ethische Theologie heute« am 18. und 19. November 2024 in der Evangelischen Akademie Tutzing stattfand. Dabei standen drei exemplarische Diskussionskontexte im Zentrum: Die Debatte um die mögliche Abschaffung des §218 StGB, die Frage nach einer Neuakzentuierung evangelischer Friedensethik sowie die Frage des Umgangs mit dem Klimawandel. Uns interessierte: Was kann aus der Reflexion dieser Debatten und ihrer Sprache und Begrifflichkeiten für das Verhältnis von Theologie, Kirche und Öffentlichkeit gewonnen werden? Wie lässt sich im 21. Jahrhundert ethisch-theologisch sprechen?

Um den diskursiven Charakter zu fördern, wurde weitgehend in Panels aus Vortrag und Kommentar gearbeitet. Wir danken allen Beteiligten, dass sie sich auf unsere Fragestellung eingelassen und einen Beitrag beigesteuert haben. Es freut uns sehr, dass wir alle Beiträge hier abdrucken können.

Dr. Hendrik Meyer-Magister, Stellvertretender Direktor und Studienleiter für Gesundheit, Künstliche Intelligenz und Spiritual Care an der Evangelischen Akademie Tutzing

Nora Meyer, Promovendin und ehemalige Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Systematische Theologie und Ethik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München; Vikarin der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers, Göttingen

Prof. Dr. Reiner Anselm, Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München

 

Aus epd Dokumentation 10/25 vom 4. März 2025: 
10/25 – Ethische Theologie heute (Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 18. bis 19. November 2024)
52 Seiten / 6,60 €

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