Die Praxis der Sozialen Arbeit kirchlicher Wohlfahrtsorganisationen war Gegenstand der Jahrestagung des Netzwerks Sinti Roma Kirchen im September 2024 in Hamburg. In der Vergangenheit war die Herangehensweise kirchlicher Akteure oft paternalistisch und immer wieder auch einen ausgrenzenden bis hin zu einem gewaltvollen Umgang geprägt. Sich diesen dunklen Kapiteln zu stellen ist der Anspruch des Netzwerks Sinti Roma Kirchen. Gleichzeitig war die diesjährige Tagung ein Raum für Aktivist:innen aus der Community und solidarischen Bündnispartnern, um sich über Community-Perspektiven und Praxen des Widerstands gegen Ausgrenzung und für Teilhabe auszutauschen.
Der Austausch zum Spannungsfeld Paternalismus-Partizipation in der kirchlichen Sozialen Arbeit, den wir auf der letzten Netzwerktagung in Nürnberg im November 2023 hatten, hatte gezeigt, dass dies nur ein erster Schritt sein konnte bzw. die Bearbeitung dieses Themas einen langen Atem erfordert. Daher haben wir maßgeblich vom damaligen Eröffnungsvortrag2 angeregt, die Fragestellung zugespitzt, um kirchlicher (Mild-)Tätigkeit als Herrschaftsform gegenüber Sinti* und Roma* nachzuspüren. Die Argumentation von Natalie Reinhardt, dass über die Soziale Arbeit Sinti* und Roma* als ›Andere‹ konstruiert werden (hilfsbedürftig, ungebildet, unmündig, etc.), um in der Abgrenzung davon die bürgerliche Norm des autonomen, gebildeten und mündigen Subjekts zu konstruieren, trifft dabei nicht nur auf eine lange Geschichte zu, sondern auch auf eine verletzende Gegenwart.
Dass für ein tieferes Verständnis über die Funktionsweisen antiziganistischer Strukturen der Blick bis in die Anfänge des Protestantismus lohnt, beweist Dr. Karl-Heinz Fix in seinem »Überblick mit kritischen Bemerkungen zum bisherigen Umgang mit den Quellen«. Basierend auf der Feststellung einer sehr dünnen Quellenlage mahnt er an, mit den bisher erschlossenen Quellen nicht vorschnell zu Schlüssen zu kommen, die es erlauben über die Evangelische Kirche in ihrer Gesamtheit zu sprechen. Gerade der deutsche Protestantismus ist durch eine föderale Struktur geprägt, den es im Detail zu untersuchen gilt. Mit ersten Schritten hierzu zeigt Dr. Fix dies bereits an über 2.000 untersuchten Kirchenordnungen auf, wo die niedrige Trefferzahl von 17 für das Stichwort, ›Sinti‹, ›Roma‹ oder ›Zigeuner‹ Bände spricht, sodass man durchaus davon sprechen kann, dass das Verhältnis von Kirche und Sinti* und Roma* hauptsächlich durch ein Nicht-Verhältnis geprägt ist. An weiteren angeführten Beispielen, etwa Spätschriften von Luther, evangelischen Sittengeschichten oder theologischen Lexika ließe sich das Argument über dieses Nicht-Verhältnis zwischen Evangelischer Kirche und Sinti* und Roma* auch derart betrachten, dass lediglich das Zigeuner-Konstrukt als Abgrenzungsvehikel fungiert und in einem Reigen von Devianzen auftaucht, je nach Bedarfen der jeweiligen Epoche gemeinsam mit unter anderem Juden, Katholiken und Schaustellern.
Verena Meier von der Forschungsstelle Antiziganismus der Universität Heidelberg kann in ihren Analysen zu den Entwicklungen über »das Verhältnis der Evangelischen Kirche zu Sinti und Roma nach 1945« gut daran anknüpfen. V.a. in den späten 1940er und 50er Jahren waren es zunächst noch einzelne Akteure, deren Einsatz für Sinti* und Roma* mit ihrem Engagement für Juden und Jüdinnen einherging, wie etwa der Pfarrer Fritz Majer-Leonhard von der »Hilfestelle für Rasseverfolgte der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart« oder Georg Althaus, Inhaber des »Pfarramts für den Dienst an Israel und den Zigeunern« in Braunschweig. Beide zeichnet bei durchaus glaubhaften guten Absichten ein antiziganistischer Paternalismus aus. Zeichen der Bemühungen auf evangelischer Seite sind das Bestreben der Koordination der Arbeit mit Sinti und Roma ab den 70er Jahren. Trotzdem kommt es zu Konflikten mit der sich formierenden Bürgerrechtsbewegung. Diese Entwicklungen laufen parallel zur Formierung der »Katholischen Zigeuner- und Nomadenseelsorge« ab 1965. In den späten 70ern und 80ern werden ansatzweise Minderheitsangehörige in die Gestaltung der kirchlichen Arbeit einbezogen. Was erste positive Anzeichen von Teilhabe sind.
Dr. Harald Jenner bildet den Schlussteil des historischen Teils mit seinen Überlegungen zu »möglichen historischen Quellen zum Antiziganismus in Diakonischen Einrichtungen.« Mit Blick auf die Entwicklung diakonischer Einrichtungen wird schnell klar, warum eine historische Aufarbeitung vor enormen Herausforderungen steht. Zum einen ist da das zahlenmäßige Verhältnis von Minderheit und Gesamtgesellschaft (das sich durch den NS-Völkermord nach 1945 dramatisch darstellte) sowie der vermutete geringe Anteil von evangelischen Sinti* und/oder Roma* (valide Zahlen bleiben ein Forschungsdesiderat). Zum anderen entwickelten sich diakonische Einrichtungen im Laufe des 19. Jahrhunderts oft aus Individualinitiativen und waren nicht direkt mit Landeskirchen verbunden. Die Entstehung dieser Einrichtungen ist im Zusammenhang mit historischen Entwicklungen (soziale Missstände in der Industrialisierung, Abkehr vom kirchlichen Leben) zu sehen, wo sich die »Innere Mission« (als innerdeutsches Pendant zur ›äußeren Mission‹) der Fürsorge gesellschaftlich Benachteiligter annahm. Dies geschah in der Logik kolonialistischer Denkmuster – gerade bzgl. der »letzten Wilden Europas« bzw. »primtiver Zigeuner«. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es zu komplexen Vereinigungsprozessen in den Diakonischen Werken. Deshalb gestaltet sich die Erschließung dieser heterogenen Archive herausfordernd. Erste Ansatz- und Anhaltspunkte, etwa für Kinderheime, Fürsorgeeinrichtungen oder Einrichtungen für Menschen mit Behinderung zeigt Dr. Jenner in seinem Beitrag auf.
Mit diesen geschichtswissenschaftlichen Beiträgen ist eine Grundlage für weitere Schritte einer Aufarbeitung der »zweiten Verfolgung«, des Unrechts nach 1945 in kirchlichem Kontext, geschaffen. Mit den archiv- und geschichtswissenschaftlichen Ansätzen, die auf dieser Tagung vorgestellt worden sind, gilt es nun mit den Akteuren aus dem Netzwerk Sinti Roma Kirchen konkrete Fälle, zunächst stichprobenartig, zu erarbeiten. Dafür sehen wir gute Grundvoraussetzungen im Netzwerk: kirchliche Akteure, denen Verantwortungsübernahme und eine selbstkritische Aufarbeitung von Innen ein großes Anliegen ist, und Vertreter:innen von Selbstorganisationen, die die Betroffenenperspektive einbringen. Nach unserem Verständnis sind die Erfahrungen und Perspektiven von Minderheitsangehörigen in unseren kirchlichen Aufarbeitungsbestrebungen fundamental. Aber mit Blick auf die zwiespältige Geschichte ist uns auch klar, dass das Vertrauen von mehrheitsgesellschaftlicher Seite erst aufgebaut werden muss. Wie wichtig diese Aufarbeitung gesamtgesellschaftlich ist, geht auch aus dem Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus hervor. Sie fordert eine zweite Kommission explizit zu diesem Thema ein.3 Bemühungen der Bundesregierung unter Federführung des Antiziganismusbeauftragten Dr. Mehmet Daimagüler, das von staatlichen Stellen begangene Unrecht aufzuarbeiten, wollen wir mit der Bearbeitung kirchlicher Praxen in der Sozialen Arbeit erweitern. Dies ist besonders wichtig aufgrund der immer wieder auftretenden unmittelbaren Zusammenarbeit staatlicher und kirchlicher Akteure, die sich auch in der nicht seltenen systemischen Verschränkung über die (kirchliche) Soziale Arbeit als ›linke Hand des Staates‹4 zeigt.
Ebenso wie auf der letztjährigen Netzwerktagung war es uns auch jetzt ein Anliegen, gegenwärtige Herausforderungen in den Blick zu nehmen. Dass hierbei die Referierenden aus Selbstorganisationen den Gegenwarts-Track der Tagung gestaltet haben, ist Ausdruck des Selbstverständnisses des Netzwerks, den Austausch auf Augenhöhe zu pflegen. Dass diese Augenhöhe komplexer und vielschichtiger gedacht werden muss, als zwischen Minderheit auf der einen und Mehrheitsgesellschaft auf der anderen Seite bzw. im Tagungskontext zwischen Klient:innen und Sozialarbeiter:innen, zeigen die Beiträge von Community-Mitgliedern, die selbst in der Sozialen Arbeit oder in den Behörden tätig sind.
Welchen massiven Nachholbedarf an Selbst-reflexion Behörden haben, zeigt Vahide Berisha in ihrem Beitrag »Zwischen Diskriminierung und Empowerment auf: »Meine Erfahrungen als Angehörige der Sinti und Roma in Hamburger Behörden«. Die – wohl für alle – bedrückende antiziganistische Behördenpraxis als Betroffene nicht nur zu schildern, sondern eine persönliche Widerstandsmotivation daraus zu entwickeln, ist so inspirierend wie mutig.
Ein Baustein für systematische Strukturveränderungen ist die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus Schleswig-Holstein. Rolf Schlotter, Marvin Hanisch und Christian Schamong zeigen auf, wie sie sich mit ihrer Arbeit mit »Daten für Gerechtigkeit« im Kampf gegen Antiziganismus einsetzen. Die erst im Frühjahr 2024 gegründete Regionalmeldestelle, die in Kooperation vom Landesverband Deutscher Sinti und Roma und der Türkischen Gemeinde Schleswig-Holstein betrieben wird, baut ein Netzwerk auf, um als Anlaufstelle für Meldungen antiziganistischer Vorfälle das immense Dunkelfeld aufzuhellen. Da viele antiziganistische Fälle nicht in der Kriminalstatistik aufscheinen, ist es das Ziel, mit belastbaren Daten die Grundlagen zu schaffen, um den Handlungsbedarf auch quantitativ zu untermauern. Als Informationsstelle setzt sich MIA SH gleichzeitig mit Bildungsarbeit für ein Umdenken in unterschiedlichen kommunalen und staatlichen Institutionen ein.
In ihrem Beitrag »Professionelle Perspektiven aus der Community für Soziale Arbeit im Kontext Antiziganismus, heute und morgen« richtet Talina Connolly von ihrer Gegenwartsanalyse aus den Blick in die Zukunft. In ihrer Schilderung wird klar, wie komplex sich das Phänomen Antiziganismus in der Praxis der Sozialen Arbeit darstellt: Antiziganistische Diskriminierung wird nicht nur von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft (re-)produziert und Interventionen dagegen sollten nicht nur von Betroffenen eingebracht werden, sondern gerade in Momenten, in denen persönliche Betroffenheit das Intervenieren schwierig macht, braucht es eine solidarische Praxis. Ein Ethikkodex mit der Bereitschaft, immer wieder zu scheitern, bei gleichzeitigem Bestreben, die Ideale der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession festzuhalten, kann ein Lösungsansatz sein, selbsterfüllende Prophezeiungen und antiziganistische Teufelskreise zu durchbrechen.
Wir danken Arnold Weiß, dem Vorsitzenden des Landesvereins der Sinti in Hamburg, sowie Dr. Stefan Heße, dem katholischen Erzbischof von Hamburg, für das herzliche Willkommenheißen in ihrer Stadt. Ebenso unserem Kooperationspartner Stephan Link von der Evangelischen Akademie der Nordkirche sind wir für seinen Einsatz dankbar.
Wir danken allen Referierenden und Teilnehmenden der Jahrestagung 2024 des Netzwerks Sinti Roma Kirchen für die Beiträge, Impulse und Diskussionen und freuen uns, die Ergebnisse der Vorträge und Arbeitsgruppen und hier versammelten überarbeiteten Beiträge in die weitere Arbeit des Netzwerks einzubinden. Der Austausch war eine enorme Bereicherung und kann als wichtiger Schritt betrachtet werden, mit dem die zukünftige Bearbeitung der Verfolgung nach 1945 und damit einhergehende Umdenkprozesse für eine solidarische und empowernde Praxis in Angriff genommen werden kann.
Aus epd Dokumentation 3/25 vom 14. Januar 2025:
Zwischen Paternalismus und Partizipation Kirchliche Mildtätigkeit als Herrschaftsform nach 1945? (Jahrestagung des Netzwerks Sinti Roma Kirchen, Hamburg, 27. bis 28. September 2024)
52 Seiten / 6,60 €
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