Mehr als vier Jahre ist es her, dass das Coronavirus das gesellschaftliche Leben in Deutschland und weltweit umkrempelte und zumindest zeitweise weitgehend lahmlegte. Lokale, regionale und bundesweite Lockdowns sorgten dafür, dass die Zahl der Ansteckungen mit dem Virus nicht unkontrollierbar stieg, und die Versorgung der Patienten in den Krankenhäusern im Großen und Ganzen gewährleistet war. Sie sorgten aber auch dafür, dass das öffentliche Leben, die Gestaltung des Alltags und der Religionsausübung aller Menschen im Land massiv beeinträchtigt wurde.
Auch für die Kirchen bedeutete die Zeit der Pandemie einen tiefen Einschnitt in die üblichen Gewohnheiten, Routinen und Prozesse. Stimmen wurden laut, die ein Wiedererstarken von Religion in der Krise vorhersagten. In Veröffentlichungen der Evangelischen Kirche, in religiösen Medien und unter den Verantwortlichen innerhalb der Kirchen wurde um eine Einordnung der Situation gerungen und der eigene Standpunkt gesetzt oder ausdiskutiert. Manche stellten eine Verrohung der Gesellschaft fest, einen um sich greifenden Egoismus, andere waren beeindruckt von der Solidarität, die sie um sich herum beobachteten. Innerhalb der Kirche beklagten die einen, dass das kirchliche Leben zusammenbrach und zum Stillstand kam, während andere von den neuen und kreativen Wegen schwärmten, die Verantwortliche und Mitglieder für sich entdeckten und umsetzten. Auch der Umgang mit den Restriktionen und Hygienemaßnahmen wurde diskutiert, genauso wie später der Umgang mit Gegnern der Maßnahmen und der Impfung. Der Umgang mit Krankheit, Tod, Beistand und Abschied war insbesondere im ersten Jahr der Pandemie mit seinen sehr strengen Beschränkungen für öffentliche Treffen und Feiern – wozu auch Beerdigungen zählten – ein wichtiges Thema. Auch in der Retrospektive sind das Unbehagen und das ethische Dilemma der Verantwortlichen noch spürbar.
Welche Rolle spielten Theologie und Glaube in der öffentlichen Kommunikation der Evangelischen Kirche in Deutschland? Wie sehen die Evangelische Kirche und ihre Verantwortlichen die Rolle der Kirche in der Gesellschaft? Welche Aufgaben schreiben sie der Kirche zu, welche Staat und Politik, und wie spielt beides in der Pandemie zusammen? Welche moralischen Fragen wurden gestellt? Wie wurde darüber diskutiert, was »das Richtige« ist in Zeiten der Pandemie? Wie wurde insgesamt über die Pandemie gesprochen und wie hallt das heute nach?
Im Forschungsprojekt »The Changing Role of Religion in Societies Emerging from Covid-19« (Recov-19) arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus vier Ländern des globalen Nordens (Deutschland, Irland/ Nordirland, Kanada und Polen) zusammen, um die Rolle von Religion und religiösen Institutionen während der Coronapandemie zu betrachten und zu vergleichen. Im Rahmen der Trans-Atlantic Platform of the Social Sciences and Humanities (Förderlinie »Recovery, Renewal and Resilience in a Post-Pandemic World (RRR)«) wird das deutsche Projekt unter der Leitung von Prof. Kerstin Radde-Antweiler (Universität Bremen) von der DFG gefördert (Fördernummer 495586629).
Dieser Beitrag ist die Verschriftlichung der Vorstellung des Forschungsprojekts bei der Veranstaltung »Die Kirche in Zeiten der Pandemie« der Evangelischen Akademie im Rheinland am 15. Mai 2024. Hier werden erste Einblicke in die bisherigen Ergebnisse des Forschungsprojekts gegeben.
Die Aufarbeitung der Coronapandemie hat begonnen. Dieser Beitrag möchte für Mitglieder und Verantwortliche aus der Evangelischen Kirche in Deutschland ein Impuls sein. Er will Diskussionsansätze bieten, um über diese Zeit, die noch nicht sehr lange her ist, aber schon so weit weg scheint, ins Gespräch zu kommen.
(Dr. Hannah Grünenthal, Universität Bremen)
Aus epd Dokumentation 48/24 vom 26. November 2024:
Die evangelische Kirche in Deutschland in der Pandemie – Erste Ergebnisse aus dem internationalen Forschungsprojekt Recov-19 (Dr. Hannah Grünenthal, Universität Bremen)
16 Seiten / 2,80 €
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