Prof. Dr. Ruben Zimmermann auf der Tagung "Auf dem Weg zu einem neuen evangelischen Eheverständnis":
Ein evangelisches Eheverständnis kann nicht aus der Bibel abgeleitet werden. Zeitliche und kulturelle Differenzen sowie eine ausdifferenzierte Hermeneutik bezüglich der Bezugnahme auf biblische Texte in aktuellen Lebensfragen verwehren eine lineare und damit simplifizierende Übernahme biblischer Normen. Gleichwohl sollte sich ein theologisches Eheverständnis mit den biblischen und insbesondere auch neutestamentlichen Texten in Beziehung setzen, wenn es als evangelisches Eheverständnis erkennbar und unterscheidbar bleiben will. Die Bibel ist und bleibt Quelle und Maßstab der christlichen Erinnerungsgemeinschaft, die ohne Rückbindung auf biblische Texte in aktuellen Fragen des Zusammenlebens ihre Identität verliert. In dieser Weise sollen im Folgenden neutestamentliche Anregungen für den gegenwärtigen Diskurs gegeben werden.
Zunächst gilt es, die Vielfalt der Lebensformen wahrzunehmen, die im Neuen Testament ihren Niederschlag findet (1). Im zweiten Schritt wird die hermeneutische Herausforderung einer Bezugnahme auf die Bibel in Fragen der Ehe- und Sexualethik reflektiert (2.). Im dritten Abschnitt wird die These vertreten, dass Ehe und Familie keineswegs als rein weltliche Institutionen betrachtet werden, sondern in biblischen Texten durchaus Ausdruck und Gegenstand theologischer Reflexionen sind. Zugespitzt formuliert, kann man m.E. deshalb sogar von der »Heiligkeit« der Ehe sprechen (3.). Diese Heiligkeit wird aber nicht im institutionellen Stand verankert, sondern in der Art und Weise des zwischenmenschlichen Miteinanders. In einem vierten Abschnitt werden einige konkreten Aspekte dieses Beziehungsgeschehens wie Reziprozität, Körperlichkeit, Sozialrelevanz und Beständigkeit beschrieben (4.), die für die aktuelle Debatte zur Gestaltung der Ehe-Gemeinschaft auch über die Mann-Frau-Beziehung hinaus anregend sein können.
1. Phänomenologische Orientierung: Die Vielfalt der Lebensformen im NT
Im Neuen Testament wird die Ehe als eine Lebens-, Erziehungs- und Hausgemeinschaft zwischen Mann und Frau, z.B. in den Haustafeln (Kol 3, Eph 5), benannt.
Aber es gibt auch explizit ehe- und familienfeindliche Texte, wie z.B. in Mk 3 oder Mt 10, in denen Jesus das Verlassen der Familie fordert, um des Reiches Gottes willen.3 Selbst unter den Aposteln besteht Dissens der Lebensformen, wie uns 1Kor 9 vor Augen bringt: Die einen wie z.B. Petrus führen ihre Ehefrau auf den Missionsreisen mit sich, andere – wie Paulus – tun das nicht. Höchstwahrscheinlich lebte Paulus sogar ehelos, oder zumindest – folgt man der These von Trobisch zu Phil 4,34 – in einer Art Missionsreisen-Wochenend-Beziehung.
Es gibt darüber hinaus Ehen mit sexueller Aktivität (1Kor 7,3-4), zeitlicher Enthaltsamkeit (1Kor 7,5) oder evtl. dauerhafter Enthaltsamkeit, die Syneisaktenehe, wie man das später genannt hat (im Anschluss an 1Kor 7,29-34; vgl. Did 11,11; ActPaulThec 5).
Ferner lesen wir von Geschiedenen bzw. getrennt Lebenden (1Kor 7,10f.) oder von Mischehen, d.h. »exogame Ehen« wie man das heute im Anschluss an El Mansy bezeichnen würde.
Schließlich gibt es mit der samaritanischen Frau am Jakobsbrunnen (Joh 4) noch eine Frau, die in »eheähnlicher Gemeinschaft« lebt, bis hin zum Eunuchen nach Apg 8, der als transgender-Persönlichkeit gewiss nicht pater familias war.
(...)
Aus epd Dokumentation 6/19 vom 5. Februar 2019
Auf dem Weg zu einem neuen evangelischen Eheverständnis (Tagung an der Evangelischen Akademie
Loccum, 31. August bis 1. September 2018) – 68 Seiten / 5,60 €