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1. Zunächst der Krieg.
Der See Genezareth, wo der Fischer Simon mit seinen Gefährten fischt, ist kein unschuldiges Gewässer; er steht für ein Kriegstrauma in der Zeit der Evangelien. Der See ist ein Kriegsschauplatz, an ihm hat sich eines der grausamsten Massaker im jüdischen Krieg zugetragen. Nach heutigem Recht wird die Tat als Kriegsverbrechen geächtet. Die römischen Truppen haben dort ein Blutbad angerichtet. »Mit Blut gefärbt und voll Leichen war der ganze See«, so schließt der antike Geschichtsschreiber Flavius Josephus seinen ausführlichen Bericht darüber ab, wie dort Vespasians Soldaten ihre Mordlust befriedigt haben. Heute würde diese Geschichte wohl in Butscha spielen.
Die Krise, die der Krieg in der Ukraine auslöst, ist so tief, dass sie alles, auch uns Kirchen in Deutschland, unweigerlich ansaugt und fordert. Wir können uns gar nicht zuschauend ans Seeufer stellen, das ist klar. Wir sind nicht Kriegspartei, aber wir sind parteilich für die unendlich leidenden Menschen in der Ukraine. Wir helfen den Geflüchteten, die zu uns kommen, froh, dass die Bundesregierung zumindest ihnen die Türen ganz weit öffnet, und mit dem Wunsch, dass auch Geflüchtete aus anderen Regionen der Welt solche Erleichterungen bekommen.
Am Abend des 24. Februar, als die russische Armee die Ukraine überfallen hatte, waren unsere Kirchen offen, und Gläubige, Halbgläubige und Nichtgläubige haben sich in ihnen zu Friedensgebeten versammelt. Sie haben Gott mit ihrem Bitten und Flehen um Frieden in den Ohren gelegen, ihren Protest und die Solidarität mit den Menschen in der Ukraine in Worte gebracht, gemeinsam auch Sprachlosigkeit ausgehalten.
Das andere gab es auch: Sehr schnell, zu schnell waren oft Worte da, wo Schweigen, zumindest Zögerlichkeit angebrachter gewesen wäre. Ein öffentlicher Streit brach los: Militärische Verteidigung, ja oder nein? Waffenlieferungen, ja oder nein? Pazifismus, ja oder nein? Trägt die kirchliche Friedensethik noch, ja oder nein? Diese unselige binäre Logik hielt Einzug auch in unsere Predigten und kirchlichen Stellungnahmen. Wir wurden ja immer gefragt: Entweder ... oder? Angesteckt durch den unmittelbaren Handlungsdruck, unter dem die Politikerinnen und Politiker standen – dafür haben sie meinen höchsten Respekt – gab es in der Kirche kein Halten mehr und kaum ein Innehalten, das gewagt hätte, das Fehlen eindeutiger Antworten auszuhalten. Es mussten immer Meinungen und Urteile her, und zwar sofort. Und es wurde deutlich, dass es neben der Nächstenliebe noch eine zweite Liebe unter uns gibt, nämlich die Liebe zu der immer schon gehabten Lieblingsmeinung.
Unsere Stärke, unsere kirchliche Stärke könnte, müsste doch sein, dass wir auch im Fragen nach Krieg und Frieden aufhören können, in diesem heilsamen Sinn und in dem doppelten Sinn: aufhören mit den reflexhaften Reden und aufhorchen und aufeinander hören, statt aufeinander einzureden. Im Gegensatz zu Politikerinnen und Politikern, die immer unmittelbar entscheiden müssen, haben wir doch die Freiheit, die Geschwindigkeit zu drosseln, wo die Ereignisse sich überstürzen, dem ehrlichen Nichtwissen das Wort zu reden, wo immer der Brustton der Überzeugung herrscht, mit dem Irrationalen zu rechnen, wo alles rational durcherklärt ist, Dilemmata zu formulieren, wo es vermeintlich nur richtig oder falsch gibt; ja, sie zu formulieren, ohne gleich die Lösung zu wissen. Das ist eine echte Freiheit. Es ist unser Privileg, dass wir das dürfen. Ich meine, wir müssen das auch.
Ich wiederhole mich, weil es nicht oft genug gesagt werden kann: Waffen helfen, sich zu wehren und zu verteidigen; sie können Leben retten, das ist sehr viel. Waffen allein schaffen aber keinen Frieden. Friede kann erst werden, wenn die Waffen schweigen und Gespräche möglich sind. Der Kriegstreiber Putin muss die Angriffe stoppen. Ja, das wäre das einzig Gerechte. Aber er tut es nicht, allein wenn wir es fordern. Darum habe ich am Reformationstag dafür geworben, das Gespräch nicht zu verachten und dem geistesgegenwärtigen Wort etwas zuzutrauen. Ich meine damit nicht unbedingt Friedensverhandlungen. Friedensverhandlungen mit Russland sind im Augenblick in weiter Ferne. Zur Solidarität mit der Ukraine und zu ihrer militärischen Unterstützung, die wir leisten, muss zwingend hinzukommen, in aller Mühseligkeit Wege zu einem Waffenstillstand zu suchen. Wer, wenn nicht wir Kirchen, hat die Freiheit und, wie ich meine, auch die Pflicht, zu fordern, was unmöglich scheint und doch so buchstäblich not-wendig ist?
Der Ruf nach diplomatischen Bemühungen, um einen Waffenstillstand zu ermöglichen, ist weder herzlos noch ignorant gegenüber den Menschen in der Ukraine. Das wurde mir in den letzten Tagen gern vorgeworfen. Im Gegenteil: Er ist nüchtern, realistisch und höchst aufmerksam für die Gefahr einer weiteren Eskalation des Kriegs. Es geht mir, wie gesagt, nicht darum, die Ukraine zu Verhandlungen oder gar zur Kapitulation aufzufordern. Das wäre naiv und wirklich herzlos. Aber ich unterstreiche: Gespräche auf unterschiedlichsten Ebenen dürfen niemals für unmöglich erklärt werden.
Ich gehe davon aus - womit wir wieder bei den Politikern und Politikerinnen sind -, dass es solche Gespräche gibt. Das ist meine große Hoffnung. Hierbei fassen wir uns übrigens auch kirchlicherseits an die eigene Nase. Wir erfahren in unseren Kontakten zur orthodoxen Kirche – wir haben von Erzpriester Miron gerade gehört, wie vielfältig die Lage da ist –, wie schwer bis unmöglich es ist mit dem Patriarchen Kyrill zu reden, dessen Legitimierung des Kriegs als Gottes Werk ich nun wirklich für gottlos halte. Aber ich höre und bin dankbar dafür, dass die Gespräche auf anderen Ebenen – auch davon wissen Sie ja – sehr wohl weitergehen, dass es in der orthodoxen Kirche andere Stimmen gibt und dass sich da im Verborgenen, in geschützten Räumen, im Miteinander doch einiges tut. Wir bleiben in Kontakt. Wir helfen, wir unterstützen diakonisch, seelsorglich, wo möglich auch vermittelnd. Das muss so bleiben, hoffentlich – das gebe Gott! – mit kleinen Erfolgen für den Frieden.
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Präses Dr. h.c. Annette Kurschus, Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in
Deutschland (EKD)
Magdeburg, 6. November 2022
Aus epd Dokumentation 50/22 vom 13. Dezember 2022:
Synodentagung 2022 (2)
3. verbundene Tagung der 13. Generalsynode der VELKD, der 4. Vollkonferenz der UEK und der 13. Synode der EKD, Magdeburg, 4. bis 9. November 2022
40 Seiten / 4,30 €
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